Suchtkrankenhilfe

Die Anfänge im frühen 19. Jahrhundert: die erste Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung als Antwort auf die "Branntweinpest"

Bedingt durch die industrielle Revolution kam es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu bedeutenden technischen Weiterentwicklungen innerhalb des deutschen Alkoholgewerbes. Die Herstellung des hochprozentigen Branntweins vereinfachte sich und erfolgte verstärkt auf Grundlage der kostengünstigen Kartoffel, die als Ausgangserzeugnis das teurere Getreide nach und nach verdrängte. Der billige Kartoffelschnaps wurde seitdem in Massenproduktion hergestellt und besonders von den sozial schwächeren Bevölkerungsschichten in immer stärkerem Maße konsumiert.

So stieg allein in Preußen der durchschnittliche Branntweinverbrauch zwischen 1800 und 1840 um das Fünffache an. Die so genannte Branntweinpest hing eng mit der damaligen Massenarmut (Pauperismus) zusammen und sensibilisierte Teile der Bevölkerung dafür, etwas gegen die sozialpolitischen Folgen des starken Alkoholkonsums zu tun. Es folgte um das Jahr 1820 die Bildung einer ersten Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung, die zum großen Teil von evangelischen Pfarrern initiiert und getragen wurde. Weil sich die Politik weitgehend aus dem „Kreuzzug wider den Branntwein“ zurückhielt, beschränkte sich das Engagement der Bewegung zunächst auf Belehrungs- und Aufklärungsversuche. Auch wurde in der Regel nur der Branntweingenuss abgelehnt und besonders im Lager der Mäßigen der Konsum von Bier und Wein nicht in Frage gestellt. Das geschah nicht zuletzt aufgrund mangelnder Alternativen, da die Wasserqualität in den meisten Städten und Regionen sehr schlecht war, man lagerungsfähige Fruchtsäfte noch nicht herstellen konnte und gerade das nährstoffhaltige Bier als wichtiges Nahrungsmittel galt. Trotz inhaltlicher Differenzen und eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten waren in den 1840er Jahren bereits eine Million Menschen in den Vereinen der ersten Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung organisiert, bevor es im Zuge der bürgerlichen Revolution von 1848 zur Auflösung der meisten Vereine kam.

Wahrnehmungen und Erklärungsmodelle des Alkoholismus

Der Alkoholverbrauch war zwar durch die Arbeit der alkoholgegnerischen Bewegung und die Ereignisse der Revolution kurzzeitig zurückgegangen, stieg aber rasch wieder an. 1849 hat Johann Hinrich Wichern in seiner Denkschrift „Die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche“ auf die Alkoholproblematik hingewiesen und die Trunksucht als eine der Giftquellen bezeichnet, die das deutsche Volksleben in verzweifelte Krankheit geführt habe. Die Heilung von der Trunksucht sah er deshalb als eine der dringendsten Aufgaben der Inneren Mission an, die mit außerordentlichen Anstrengungen erfolgen müsse. Möglicherweise hat sich Wichern von dem deutschen Arzt Constantin von Brühl-Cramer inspirieren lassen, der 1819 in seinem Werk „Über die Trunksucht und eine rationelle Heilmethode derselben“ als erster den Begriff der Trunksucht wissenschaftlich definierte und deren Ätiologie und Symptomatologie beschrieb. Brühl-Cramer zählte damit zu den Medizinern, die bereits ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein eigenes Krankheitskonzept für den Alkoholismus entwickelten. Dazu gehörte auch der schwedische Arzt Magnus Huss, der genau in dem Jahr, in dem Wicherns Denkschrift erschien, erstmals vom „chronischen Alkoholismus“ sprach.

Aber die Kirche griff die neuen Erkenntnisse aus dem Bereich der Medizin zunächst nur sehr zögerlich auf. Bis Ende des 19. Jahrhunderts, und oft noch darüber hinaus, herrschte in ihren Reihen eher das Erklärungsmodell von der Trunksucht als Laster oder Sünde vor. Zu dieser Zeit war auch schon der Begriff der „Opiumsucht“ geläufig, den Christoph Wilhelm Hufeland 1836 einführte, und auch auf die Gefahren des Tabakrauchens wurde damals schon hingewiesen. Aber der Alkohol als das am häufigsten konsumierte Suchtmittel und die auf ihn zurückgeführten sozialpolitischen Folgen standen eindeutig im Mittelpunkt der Fürsorge. Erst mit dem Beginn der „Drogenwelle“ Ende der 1960er Jahre sollte sich das ändern.

Der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke und das Blaue Kreuz als wichtige Bestandteile der zweiten Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung

Es waren erneut wirtschaftliche Krisen, die in den Jahren nach der 1848er Revolution und insbesondere nach der Reichsgründung die unteren sozialen Schichten hart trafen und wieder eine deutliche Zunahme des Alkoholverbrauchs begünstigten. Zwar kam auch in den gehobenen Kreisen übermäßiger Alkoholkonsum vor, aber dieser spielte sich meist verdeckt vor der Öffentlichkeit im häuslichen Bereich ab. Viel deutlicher zu Tage trat das „Krebsübel“ Trunksucht hingegen beim Industrieproletariat, das in den schnell wachsenden Fabrikstädten um schlecht bezahlte Arbeitsstellen ohne soziale Absicherung konkurrierte und häufig in Kneipen und Branntweinschenken verkehrte. Ab den 1870er Jahren wurde deshalb wieder lebhaft über die Alkoholfrage in Deutschland diskutiert. Es formierte sich daraufhin eine zweite alkoholgegnerische Bewegung, die auf breiteren Füßen stand und erfolgreicher agierte als die erste. Die Innere Mission mit ihren vielfältigen Organisationen war ein wesentlicher Bestandteil dieser Bewegung und führte den Kampf gegen die Trunksucht an mehreren Fronten.  So war sie 1883 an der Gründung des überkonfessionellen Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke beteiligt (DVMG), der umfassende Aufklärungsarbeit betrieb und u.a. für bessere Gesetze zur Bekämpfung der Trunksucht oder alkoholfreie Gaststätten warb. Zu den Bezirksvereinen des DVMG gehörten auch Frauen, die überwiegend aus dem Bürgertum stammten und sich in den Städten und Gemeinden zu eigenen Gruppen zusammenschlossen. „Im Verkehr mit den niederen Volksklassen“ wollten sie Einblicke in deren Lebensverhältnisse und Bedürfnisse gewinnen, wie es in einem Bericht des Braunschweiger Frauenvereins von 1911 hieß. Aufgrund ihrer Erfahrungen organisierten die Mitglieder des Vereins schließlich einige Jahre lang Kleidersammlungen und unterhielten neben einigen Volks-Kaffeehallen auch eine Speiseanstalt für verarmte Trinkerkinder.

Während sich der DVMG als Mäßigkeitsverein verstand, setzten sich das 1896 gegründete katholische Kreuzbündnis und das evangelische Blaue Kreuz für eine Totalenthaltsamkeit von allen alkoholischen Getränken ein. Das Blaue Kreuz, 1877 von Pfarrer Rochat in der Schweiz gegründet und bald darauf in vielen europäischen Staaten ansässig, verfügte allein in Deutschland über drei Organisationen. Noch heute gehören der Hauptverein des Blauen Kreuzes und der Deutsche Bund evangelisch-kirchlicher Blaukreuzverbände, der sich 1902 von dem Hauptverein aus innerkirchlichen Gründen abspaltete, zu den mitgliederstärksten Verbänden im Gesamtverband für Suchtkrankenhil-fe im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V. Der Hauptverein hatte damals seinen Sitz in Barmen, wo er einen eigenen Verlag betrieb und neben vielen Traktaten auch ein auflagenstarkes Monatsheft mit dem Namen „Der Herr mein Panier“ herausbrachte. Neben dem Bemühen, mit seinen Veröffentlichungen Aufklärung „über die verderblichen Wirkungen des Alkohols“ zu betreiben und damit Einfluss auf die Trinksitten der Bevölkerung zu nehmen, engagierte sich das Blaue Kreuz ab Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls in der praktischen Trinkerrettungsarbeit. Für diesen Zweck gründete man in zahlreichen Städten kleine Ortsvereine, in denen Gottes Wort verkündet und Möglichkeiten zur Bekämpfung des Alkohols aufgezeigt wurden. In den Vereinen verpflichteten sich die Mitglieder und Anhänger zur Enthaltsamkeit von allen alkoholischen Getränken und darauf, „an der Rettung der Opfer der Trunksucht, der Trinksitte und des Wirtshauslebens zu arbeiten“, wie es in einem Artikel über die Blaukreuzvereine hieß. Die Leitung lag in der Regel in den Händen der örtlichen Gemeindepfarrer oder Stadtmissionare; die Mitarbeit von ehemaligen Trinkern und Trinkerinnen war ausdrücklich erwünscht. Einem Bericht über die Blaukreuzarbeit aus dem Jahr 1908 ist daher auch zu entnehmen, dass unter den 34.000 Mitgliedern des Hauptvereins allein 8.700 gerettete Trinker waren. Viel Wert legten die Vereine auch auf die Mitarbeit der Ehefrauen alkoholgefährdeter Männer. Zum einen sollten diese ihre Männer auf dem mühsamen Weg zur Totalabstinenz mit Fürsorge und Zuspruch begleiten und als Vor-bild ebenfalls ein enthaltsames Leben führen. Zum anderen gab man ihnen oft die Schuld dafür, dass es innerhalb der Familie überhaupt zur Trunksucht kam. Ungemütliche und unsaubere Wohnungen sowie zu stark gewürzte und unappetitliche Speisen würden die Männer geradezu außer Haus und in die Kneipen treiben, waren die am häufigsten genannten Kritikpunkte. Mit Anleitungen zur Führung eines Haushaltes oder Kochkursen wollten die Blaukreuzvereine dem entgegentreten.

Von der Trinkerrettungsarbeit zum Auf- und Ausbau der Trinkerfürsorge

Nach den positiven Erfahrungen mit den Blaukreuzvereinen wurde die evangelische Fürsorgearbeit Anfang des 20. Jahrhunderts weiter ausgebaut. In vielen Städten und Gemeinden entstanden Trinkerfürsorgestellen, deren jeweilige Gründung nach Absprache zwischen dem Central-Ausschuss für Innere Mission sowie den örtlichen Blaukreuzvereinen und evangelischen Wohlfahrtsdiensten erfolgte. Diese Trinkerfürsorgestellen arbeiteten in der Regel nach den gleichen Grundsätzen. Es wurden Auskunfts- und Beratungsstellen eingerichtet, die regelmäßig Sprechstunden abhielten. Entweder kamen die Betroffenen von alleine in die Sprechstunde oder wurden, was häufiger vorkam, von Polizeibehörden, Ärzten oder den Angehörigen angemeldet. Die namentlich erfassten Trinker wurden dann von dem Leiter der Stelle oder einem freiwilligen Helfer betreut. Die Aufgaben waren vielfältig: Aufklärung, Vermittlung in den nächsten gelegenen Blaukreuzverein, Betreuung der Angehörigen. Bei schweren Fällen wurden oft schärfere Maßnahmen angedroht oder auch in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden umgesetzt. Dazu gehörte u.a. die öffentliche Namensnennung auf einer so genannten Trinkerliste, Entmündigungs- oder Fürsorgeerziehungsverfahren sowie die Einweisung in eine Anstalt. Obwohl es nicht einfach war, die Fürsorgestellen mit geeignetem Personal und Finanzmitteln auszustatten, gab es Ende 1927 bereits 80 evangelische Trinkerfürsorgestellen in Deutschland.

Auch der Staat und die Kommunen engagierten sich nun stärker als bisher auf dem Gebiet der Trinkerfürsorge und richteten ihrerseits Trinkerfürsorgestellen ein. Insbesondere ab den 1920er Jahren arbeiteten die öffentlichen und konfessionellen Fürsorgestellen, die man als Vorläufer der heutigen ambulanten Beratungsstellen bezeichnen kann, eng mit den neuen Wohlfahrts- und Gesundheitsämtern zusammen, was zu einem Professionalisierungsschub in der Betreuung und Behandlung von Alkoholikern führte. So wurden z.B. die meisten Fürsorgestellen nun von einem hauptamtlichen Trinkerfürsorger geleitet. Die Ausbildung und Schulung der evangelischen Trinkerfürsorger lag ab 1927 in den Händen der evangelischen Reichsarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung der Alkoholnot (ERBA) mit Sitz in Berlin-Dahlem.

Im Frühjahr des Jahres 1927 gründete sich die ERBA mit dem Ziel, alle evangelischen Enthaltsamkeitsvereine und Verbände unter eine Dachorganisation zu stellen. In Fachausschüssen wurden zukünftig die Anliegen und Fragen der 150 angeschlossenen Verbände besprochen und eine gemeinsame Vorgehensweise vereinbart. Der erste Geschäftsführer der ERBA hieß Paul Seyferth, der zuvor schon in verschiedenen alkoholgegnerischen Organisationen aktiv und der Referent für Alkoholfragen im Central-Ausschuss für Innere Mission war. Seyferth war es auch, der wiederholt und pointiert darauf hinwies, dass der Alkohol mittlerweile zum größten Arbeitgeber der Inneren Mission geworden sei.

Tatsächlich muss man attestieren, dass der Umgang mit Alkoholkranken bzw. deren Angehörigen fast alle Fürsorgebereiche berührte, in denen die christliche Liebestätigkeit ihren Dienst versah. Das gilt insbesondere für den Anstaltsbereich, der Ende des 19. Jahrhunderts stark expandierte. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Krankenpflege in den zahlreichen Diakonissen-, Kranken-, Siechen- und Armenhäusern, sondern auch die Fürsorge in den Rettungshäusern, Arbeiterkolonien oder Herbergen zur Heimat.

Die ersten Spezialeinrichtungen für Alkoholkranke fallen ebenfalls in diese Zeit. 1851 wurde in Lintorf das erste deutsche Trinkerasyl gegründet, einige Jahre später folgten die ersten Trinkerheilanstalten, von denen es 1914 bereits über 50 gab. Darunter waren auch einige wenige Einrichtungen für Frauen. So wurde zum Beispiel in dem Frauenheim Himmelsthür ein eigenes Haus für „nervöse Damen und Alkoholistinnen aus den gebildeten Kreisen“ eingerichtet, das in Ausnahmefällen auch Morphinistinnen aufnahm. Die meisten Trinkerheilanstalten gehörten zur Inneren Mission und standen unter Leitung eines Pfarrers und der Aufsicht eines Anstaltsarztes. Eine strenge Hausordnung regelte das Leben in den Anstalten, das von Arbeit im Freien und seelsorgerischer Erziehung zur Abstinenz geprägt war. Wer sich der Hausordnung widersetzte, wurde entweder ermahnt, ausgewiesen oder mit der Anwendung von schärferen Maßnahmen bedroht.

Das konnte die Entmündigung sein oder, bei bereits entmündigten Patienten, die Einweisung in eine staatliche Heil- und Pflegeanstalt oder ein Arbeitshaus. Die Kosten für einen Kuraufenthalt, der im Idealfall mindestens ein halbes Jahr dauerte, trugen die Patienten selbst. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts beteiligten sich aber auch Landesversicherungsanstalten, Krankenkassen oder die Wohlfahrtsämter an den Pflegekosten. Aufgenommen wurden überwiegend Personen aus den besseren Ständen, denen man Heilungschancen einräumte. Allerdings wurden die Aufnahmebedingungen durchaus elastisch gehandhabt, was besonders für wirtschaftliche Krisenzeiten galt. Als zum Beispiel während des Ersten Weltkrieges viele Heilanstalten schließen mussten, weil sich nicht mehr genügend Patienten anmeldeten, kamen plötzlich Personen für ein Heilverfahren in Frage, die aufgrund ihrer Konstitution und sozialen Herkunft eigentlich nicht den Aufnahmekriterien einer privaten Trinkerheilanstalt entsprachen. Dennoch, die als unheilbar bezeichneten Trinker wurden in der Regel gar nicht erst aufgenommen, sondern in den staatlichen Heil- und Pflegeanstalten oder Arbeitshäusern verwahrt. Es kam also in dem evangelischen Behandlungskonzept für Alkoholkranke neben der Androhung und Anwendung von Zwangsmitteln auch zu einer Auslese, die sich Anfang der 1930er Jahre noch deutlich verschärfte. Im Kontext von Sozialdarwinismus, Rassenhygiene und Weltwirtschaftskrise beteiligte sich auch die Innere Mission aktiv an Diskussionen, die zwischen „höherwertigen“ und „minderwertigen“ Menschen unterschied.

Der Ökonom und Mediziner Hans Harmsen, der 1926 von der Inneren Mission als Leiter der neu eingerichteten Abteilung „Gesundheitsfürsorge und Kranken- und Pflegeanstalten“ eingesetzt wurde, verwies zum Beispiel in zwei Aufsätzen aus dem Jahr 1931 darauf, dass sozial hochwertige und leistungsfähige Familien einen bedrohlichen Geburtenrückgang zu verzeichnen hätten, während sich die asozial minderwertigen Bevölkerungsgruppen, etwa Trinker oder Psychopathen, überproportional vermehrten. Um die Innere Mission finanziell zu entlasten und gleichzeitig eine Gesundung des deutschen Volkskörpers zu erreichen, schlug er vor, „Minderwertige“ durch Asylierung oder Sterilisierung von der Fortpflanzung auszuschließen und die bisher praktizierte „individuelle Fürsorge“ durch eine differenzierte zu ersetzen. Wer nicht zu den „leistungsfähigen“ Menschen gehörte, sollte nach Harmsen mit einem Mindestmaß an menschenwürdiger Versorgung und Bewahrung auskommen. Diese Überlegungen wurden schließlich von der nationalsozialistischen Rasse- und Gesundheitspolitik aufgegriffen und in radikalisierter Form umgesetzt.

Die Trinkerfürsorge in der Zeit des Nationalsozialismus

Ein wesentliches Merkmal der nationalsozialistischen Alkoholpolitik, die bis zu ihrem Ende sehr widersprüchlich blieb, war die Unterscheidung zwischen heilbaren und unheilbaren Trinkern. Unheilbare Trinker wurden von Beginn an als „erbbiologisch minderwertig“ stigmatisiert und verfolgt. Eine Grundlage dafür schuf eines der ersten rassepolitischen Gesetze der Nationalsozialisten, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) vom 14. Juli 1933, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Nach § 1 des Gesetzes konnten „Erbkranke“ durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht werden, wenn zu erwarten war, dass ihre Nachkommen an schweren Erbschäden leiden würden. Die Diagnose „schwerer Alkoholismus“ war ebenfalls im Sinne des Gesetzes anzeigepflichtig, obwohl es keinen Beweis für die Vererbbarkeit von Alkoholismus gab.

In einem Kommentar, der die Merkmale von „Erbkrankheiten“ beschreibt und Ärzte und Juristen mit dem Sterilisationsgesetz vertraut machen sollte, versuchte der Gesetzgeber deshalb, eine Definition für schweren Alkoholismus mitzuliefern, denn „die Tatsache des Alkoholgenusses und mehr oder weniger schwerer Rauschzustände teilt ja der sterilisierungspflichtige Trunksüchtige mit manchen Alkoholfreunden, die volksgemeinschaftlich und erbbiologisch nicht unbedingt unerwünscht zu sein brauchen“. Man müsse also, so die Kommentatoren weiter, das Umfeld des Betroffenen und seine Beweggründe betrachten, die zum Trinken führten. Die Familie eines schweren Trinkers sei fast immer minderwertig, heißt es dann, und auch eine Neigung zu krimineller und asozialer Betätigung weise auf die Berechtigung einer Unfruchtbarmachung hin. Es liegt auf der Hand, dass allein nach diesen Kriterien alle sozial unangepassten Alkoholiker gefährdet waren. Tatsächlich ist eine genaue Ermittlung der Opferzahlen schwierig, aber man geht heute davon aus, dass etwa 5-10% der im „Dritten Reich“ zugrunde gelegten Gesamtzahl von 300.000 Trinkern sterilisiert wurden.

Ein weiteres Gesetz, das Einfluss auf die Trinkerfürsorgearbeit nahm, war das am 24. November 1933 erlassene „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ (Maßregelgesetz). Nach Paragraph 42c konnten straffällig gewordene Trinker nach Verbüßung einer Haftstrafe bis zu zwei Jahre in eine Trinkerheilanstalt eingewiesen werden. Beide Gesetze wurden sowohl von der Inneren Mission als auch von Mitarbeitern der evangelischen Trinkerfürsorge begrüßt, wie zum Beispiel eine Tagung der deutschen Trinkerhilfe in Kiel verdeutlicht, die am 7. Oktober 1935 in Kiel stattfand. Pastor Martin Müller, Geschäftsführer des 1903 gegründeten „Verbands von Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebiets“ und Vorsteher einer evangelischen Trinkerheilanstalt, erhoffte sich vom dem § 42c des Maßregelgesetzes einen regen Zuspruch an Patienten für die Trinkerheilanstalten und bezeichnete das GzVeN als großes Werk der Aufartung für das deutsche Volk.

Die Trinkerfürsorgestellen wurden mit ihren Strukturen und Trinkerkarteien ein wichtiger Bestandteil für die Umsetzung der zwei hier erwähnten Gesetze und der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik insgesamt. Wenngleich insbesondere die Umsetzung des GzVeN Handlungsspielräume bot und diese auch von Mitarbeitern genutzt wurden, bleibt festzuhalten, dass viele Fürsorger „erbkrankverdächtige“ Trinker anzeigten oder deviante Alkoholkranke mit Zwangssterilisation oder der Einweisung in ein Arbeitshaus bedrohten. Einweisungen in die privaten Trinkerheilanstalten blieben aber nun noch stärker als zuvor den heilbaren Trinkern vorbehalten. Elke Hauschildt hat deswegen auch zu Recht darauf hingewiesen, dass der Konformismus der Trinkerfürsorge in der Zeit des „Dritten Reiches“ über die Begrüßung nationalsozialistischer Behandlungsansätze hinausging und die Grenze zur Anbiederung überschritt.

Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges kam die Trinkerfürsorge dann nach und nach zum Erliegen. Viele Trinkerfürsorgestellen mussten schließen, weil das Personal eingezogen wurde oder man die Räume anderweitig nutzte. Auch gab es kaum noch Leute, die sich ihnen freiwillig anvertrauten; viele der als „asozial“ und „arbeitsscheu“ bezeichneten Trinker wurden hingegen schon in den Jahren zuvor in Arbeitshäuser oder Konzentrationslager eingeliefert. Von den 27 Trinkerheilanstalten, die es im Frühjahr 1939 noch gab, hat nur eine ihre Arbeit bis zum Kriegsende weitergeführt. Die meisten Anstalten wurden geschlossen, weil man ihre Räume für Wehrmachtszwecke benötigte. Die noch verbliebenen Einrichtungen mussten schließlich ihre Tätigkeit wegen mangelnder Auslastung einstellen, woran auch der § 42c des Maßregelgesetzes nichts ändern konnte.

Autor: Steffen Meyer

Literatur:

Elke Hauschildt: „Auf den richtigen Weg zwingen…“ Trinkerfürsorge 1922 bis 1945, Freiburg im Breisgau 1995.

Bernd Hey; Matthias Rickling; Kerstin Stockhecke; Bärbel Thau: Alkohol – Sünde oder Sucht? Enthaltsamkeitsbewegung, Trinkerfürsorge und Suchtberatung im evangelischen Westfalen, Bielefeld 2004.

Wilhelm Martius: Die speziellen Aufgaben der inneren Mission in dem neuerwachten Kampfe gegen die Trunksucht, Magdeburg 1884.

Paul Seyferth: Die Bekämpfung des Alkoholismus durch die konfessionellen Verbände. Eine Uebersicht über Organisation und geleistete Arbeit. 1. Die evangelische Arbeit, in: Sonderdruck aus „Freie Wohlfahrtspflege“ 2. Jg. (1927/28), Heft 12, 1-6.

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