Von der „Wir-sind-kein-Einwanderungsland“-Haltung zur MBE
Nach fast vier Jahrzehnten engagierter Arbeit bei der Diakonie Hessen verabschiedet sich Martha Prassiadou in den wohlverdienten Ruhestand. Sie hat die Entwicklung der Migrationsberatung von Beginn an begleitet. Darüber haben wir mit ihr gesprochen.
Martha Prassiadou war seit 2005 als Referentin bei der Diakonie Hessen für die Fachberatung der Migrationsberatenden zuständig. Sie hat damit die Entwicklung der Migrationsberatung in ihrer heutigen Form von Beginn an begleitet. Ende Mai 2025 geht sie nach insgesamt 38 Jahren bei der Diakonie in den Ruhestand. Hier schildert sie im Interview mit Sascha Schießl und mir ihre persönlichen Erfahrungen. Sascha Schießl hat beim Infoverbund Asyl und Migration die Webseite www.migrationsberatung.org aufgebaut.
Wie sind Sie erstmals mit der Migrationsberatung in Kontakt gekommen?
Ich bin 1972, ein Jahr vor dem Anwerbestopp, im Alter von 13 Jahren gemeinsam mit meinen Geschwistern als sogenannte Seiteneinsteigerin in das deutsche Bildungssystem eingewandert. Meine Eltern waren damals schon Klienten in der Beratungsstelle für Griechen des Evangelischen Regionalverbandes in Frankfurt. Das war mein erster Bezug zum Feld der Sozialen Beratung.
Und später haben Sie dann selbst beruflich bei der Ausländersozialberatung der Diakonie begonnen?
Meine Schullaufbahn war sehr kompliziert. Damals gab es keinerlei Förderprogramme für ausländische Kinder und Jugendliche. Meine eigene Biographie hat auch mein Interesse für Bildung geweckt und meinen Blick für das Thema Chancengerechtigkeit, vor allem in Bezug auf Mädchen und Frauen, geschärft.
Nachdem ich nach und nach alle meine Schulabschlüsse nachgeholt hatte, wurde für mich klar, dass ich Soziale Arbeit studieren werde. 1988, nachdem ich mein Anerkennungsjahr in der Beratungsstelle für Griechen des Evangelischen Regionalverbandes absolviert hatte, habe ich in der Ausländersozialberatung der Diakonie in Offenbach angefangen zu arbeiten. 1992 bin ich zum Landesverband der Diakonie Hessen gewechselt – anfangs mit der Zuständigkeit für die Arbeitsfelder „Außerschulischen Hilfen“ und „Interkulturelle Mädchen- und Frauenarbeit“.
2005 wurde die bundesgeförderte Migrationsberatung neu eingeführt. Welche Aufgaben hatten Sie dann bei der Diakonie Hessen?
Ich habe die Fachberatung der MBE-Berater*innen übernommen. Das beinhaltet unter anderem die Organisation und Durchführung von fachspezifischen Fortbildungen. Eine zweite wichtige Säule der Fachberatung ist die Unterstützung und Begleitung der MBE-Berater*innen, vor allem in Konfliktsituationen.
Und der interkulturellen Mädchen- und Frauenarbeit haben Sie sich während Ihrer Arbeit für die Migrationsberatung weiterhin gewidmet?
Gemeinsam mit einer Arbeitskollegin der Diakonie Darmstadt hatte ich Frauenbildungsseminare für Migrantinnen konzipiert, die wir 25 Jahre lang angeboten haben. Die interkulturelle Mädchen- und Frauenarbeit hat mich in verschiedenen Kontexten während meiner ganzen beruflichen Tätigkeit begleitet.
Worum ging es dabei konkret?
Ziel der Seminare war, Migrantinnen einen geschützten Raum zu bieten, über die Folgen ihrer Migrationsgeschichte nachzudenken und diese zu verarbeiten. Dieses Vorhaben resultierte aus der Beobachtung, die wir in der Ausländersozialberatung gemacht haben, nämlich, dass Migration oft als eine Art „Übergangszeit“ erlebt wurde, deren Abschluss eine nicht selten „imaginär“ bleibende Rückkehr bilden soll. Die Zeit in Deutschland wurde in der ersten Generation und teilweise auch in der zweiten Generation der sogenannten Gastarbeiter*innen nicht als eigentliche Lebenszeit erlebt, sondern als Folge des nie gefassten „Auswanderungsentschlusses“. Diese Wahrnehmung wurde durch die damalige Politik und das Verharren in einem Wartezustand durch eine „Wir-sind-kein-Einwanderungsland“-Haltung bewusst begünstigt.
Wie wichtig ist es, dass Menschen mit einer Migrationsbiographie eine Stelle wie Ihre besetzen?
Meines Erachtens ist es nicht zwangsläufig, dass nur Migrant*innen Migrant*innen beraten können. Ich finde es aber sehr wichtig, dass Migrant*innen bestimmte Schlüsselpositionen besetzen. Leider ist es im Sozialen Bereich eher eine Seltenheit, dass Migrant*innen an Positionen auf der mittleren Ebene eingesetzt werden. Das ist auch für die Wohlfahrtsverbände eine Frage der interkulturellen Öffnung.
Die interkulturelle Öffnung beziehen Sie also nicht allein auf die Regeldienste?
Die Diakonie und andere Wohlfahrtsverbände fordern seit Jahren die interkulturelle Öffnung der Regeldiensten in den Kommunen und in den MBE-Förderrichtlinien ist es sogar eine Auflage, die wir erfüllen müssen. Leider erleben wir heute noch, dass muslimische Kolleg*innen, die in christlichen Organisationen arbeiten, aufgefordert werden zu konvertieren, wenn ihr Arbeitsvertrag entfristet werden soll. Wenn wir aber Fachkräfte gewinnen wollen, und das gilt auch für die Soziale Arbeit, müssen wir Realitäten akzeptieren und allen Menschen eine Chance geben.
Welche Herausforderungen sind aus Ihrer Sicht nach Einführung der Migrationsberatung besonders deutlich geworden?
Die MBE, die bei der Einführung noch Migrationserstberatung hieß, sollte von Anfang an nur Menschen beraten, die sich nicht länger als drei Jahren in Deutschland aufhalten bzw. nicht länger als drei Jahren in Besitz eines Aufenthaltstitels sind. Das war und ist nicht realistisch, denn wie wir wissen, ist Integration ein langjähriger und individueller Prozess, der einer fachkundigen Begleitung bedarf.
Wenn wir zum Beispiel allein das Thema Umgang mit Behörden uns anschauen, stellen wir fest, dass das eine große Herausforderung für Migrant*innen darstellt. Das zeigt sich bei Fragen wie „Welche Behörde ist für mein Anliegen zuständig?“, „Wie stelle ich einen Antrag?“, „Was steht in meinem Behördenschreiben?“, „Welche Nachweise werden benötigt?“ Für Menschen mit Sprachbarrieren stellt all das noch eine größere Hürde dar und erschwert Migrant*innen den Zugang zu ihren Rechten.
Was bedeutet das für die Arbeit der Berater*innen?
Unsere MBE-Berater*innen sind vor Ort sehr gut vernetzt, auch mit Ämtern und Behörden, und können deshalb für diese Problematik sensibilisieren und Lösungsansätze entwickeln. Darüber hinaus sind die MBE-Berater*innen thematisch sehr breit aufgestellt. Sie müssen sich in vielen Rechtsbereichen auskennen wie aufenthaltsrechtliche Fragen, Fragen zu SGB II und SGB XII. Aber auch zu Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen sind sie wichtige Ansprechpartner*innen für Ratsuchende mit Migrationsbiographie. In den letzten Jahren erfahren die MBE-Berater*innen ein zunehmendes Interesse der Ratsuchenden sich einbürgern zu lassen. Das hat mit dem zunehmenden Rechtsruck in Deutschland zu tun und dem damit verbundenen Unsicherheitsgefühl, das Menschen verspüren.
Wie haben sich die Beratungsthemen in 20 Jahren MBE insgesamt gewandelt?
Ich würde sagen, es haben sich im Laufe der Zeit eher die Zielgruppen als die Themen in der MBE gewandelt. Hatten wir zu Beginn vorwiegend EU-Bürger*innen und Drittstaatsangehörige in der MBE, überwiegen seit 2016 die Geflüchteten. Alle Zielgruppen haben aber eins gemeinsam: Menschen fliehen aus Kriegsgebieten oder entfliehen Wirtschaftskrisen und wandern zum Beispiel nach Deutschland ein, weil sie sich wünschen, dass ihren Kindern eines Tages besser geht als ihnen selbst. Das war in den 60er Jahren bei den Gastarbeitern so und das ist bei den Geflüchteten heute genauso. Das gilt zu respektieren und zu würdigen. Ein wohlhabender Staat wie Deutschland, der sich Einwanderungsland nennen will und deshalb 2005 ein Zuwanderungsgesetz eingeführt hat, sollte in der Lage sein, finanzielle Ressourcen bereitzustellen und ein Beratungsrecht für Menschen ermöglichen, die ihr „Glück“ in Deutschland suchen, denn niemand verlässt seine Heimat freiwillig…
Was braucht es aus Ihrer Sicht für eine gelungene Integration?
Abgesehen davon, dass der Begriff „Integration“ in Fachkreisen umstritten ist, ist für mich persönlich Integration mehr als ein Nachweis, dass man die deutsche Sprache gut beherrscht, eine Wohnung hat und über einen Job verfügt, von dem man ohne Transferleistungen leben kann. Die Erfahrung der MBE-Berater*innen der Diakonie, aber auch meine eigene zeigt, dass es neben einer formalen Integration auch eine gefühlte Integration gibt. Menschen mit Migrationsbiographie, auch die der 3. und 4. Generation, erleben nicht selten Rassismen. Fakt ist auch, dass in manchen Bereichen, wie zum Beispiel Bildung eine „natürliche“ Chancenungleichheit existiert. Dazu kommen die politischen Debatten zum Thema (Re)migration, die zum größten Teil von den Medien befeuert werden. Das alles hinterlässt bei vielen, auch jüngeren Migrant*innen ein Gefühl der Desintegration und der Heimatlosigkeit.
Und wie kann die Migrationsberatung vor diesem Hintergrund erfolgreich sein?
Die MBE-Berater*innen verüben tagtäglich einen Spagat zwischen ihren professionellen Anspruch, Ratsuchende bei ihren Problemlagen und Herausforderungen beizustehen und ihren offiziellen Auftrag, den Anforderungen ihrer Förderer und Träger gerecht zu werden. Oft geschieht das auf Kosten ihrer eigenen (gesundheitlichen) Ressourcen.
Letztendlich kann die Arbeit der MBE-Berater*innen nur dann erfolgreich sein, wenn sie ihre Motivation für ihr Engagement nicht nur aus der Wertschätzung, die ihnen die Ratsuchende entgegenbringen gewinnen, sondern wenn Politik und Mehrheitsgesellschaft die Arbeit der MBE anerkennt, denn die MBE-Berater*innen unterstützen nicht nur einzelne Individuen, sondern tragen wesentlich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei.