Statt Erholung Angst und Einsamkeit
Michael Häusler
Zwischen 1951 und 1990 verbrachten in der Bundesrepublik Deutschland etwa 11 Millionen Kinder und Jugendliche Aufenthalte in Kinderkur- und -erholungsheimen. Ziel der Kinderkuren war die gesundheitliche Stärkung bei guter Ernährung und in frischer Luft. Verschickt wurden Kinder aus allen sozialen Schichten. Die Kuren wurden in der Regel von Ärzten verschrieben oder von der „Fürsorge“, zum Beispiel von Jugend- und Gesundheitsämtern, veranlasst. Die Kosten trugen meistens Rentenversicherungen und Krankenkassen. Die Kurheime waren überwiegend in privater Trägerschaft oder wurden von Wohlfahrtsverbänden oder Kommunen betrieben; jede neunte Einrichtung gehörte zur Diakonie.
Beworben wurden die Maßnahmen mit Bildern fröhlicher Kinderscharen in natürlicher Umgebung. Auch wenn viele Personen positiv von ihren Aufenthalten berichten – die Realität in den Heimen sah häufig anders aus: Viele, zu viele Betroffene haben in den Kinderkureinrichtungen keine schöne und erholsame Zeit verbracht. Sie wurden kontrolliert, eingeschüchtert, gedemütigt. Manche waren Gewalt ausgesetzt, einigen wurden zwangsweise Medikamente verabreicht.
Seit 2019 melden sich die Betroffenen öffentlich zu Wort und machen auf ihr Leiden aufmerksam, das oft bis heute nachwirkt. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Klagen schon damals bei ihren Eltern auf taube Ohren stießen. Umso wichtiger ist ihnen heute, dass die Zustände in den Kinderkuren aufgeklärt und bekannt gemacht werden. Die Diakonie hat sich dieser Verantwortung gestellt und gemeinsam mit dem Deutschen Caritasverband, dem Deutschen Roten Kreuz und der Deutschen Rentenversicherung 2022 ein unabhängiges Forschungsprojekt an der Humboldt-Universität Berlin veranlasst, dessen Ergebnisse jetzt vorliegen. Erstmals werden die Strukturen und Bedingungen der Kindererholungskuren in der Bundesrepublik umfassend analysiert und in einem multimethodischen Ansatz empirisch, sozialrechtlich, historisch und konzeptionell eingeordnet.
Die Missstände waren strukturell bedingt, wurden damals aber nicht weiter beachtet
Der Forschungsbericht stellt heraus, dass es sich bei den von Betroffenen geschilderten Vergehen nicht um Einzelfälle handelte, sondern um die Folgen struktureller Missstände in zahlreichen Einrichtungen. Bedingt waren diese unter anderem durch häufig fehlende angemessene pädagogische Konzepte, Mangel an pädagogischem Fachpersonal und eine unzureichende Aufsicht. An vielen Stellen änderte sich daran über lange Zeit nichts, obwohl es entsprechende Hinweise und Beschwerden gab.
Zugleich wird deutlich, dass die Kur- und Erholungsmaßnahmen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wurden und eine Vielzahl von Akteuren in das Funktionieren dieses komplexen Systems eingebunden waren: medizinisches Fachpersonal, Gesundheitsämter, Eltern, Schulen, Krankenkassen, Rentenversicherungen, Aufsichtsbehörden, die Träger der Erholungsheime und das Heimpersonal. Das Forschendenteam um Prof. Dr. Alexander Nützenadel hat Quellen in mehr als 60 Archiven ausgewertet und zahlreiche Zeitzeugen von den Forschenden befragt, darunter auch viele Betroffene. Begleitet wurde die Forschung durch einen Projektbeirat, dem auch Vertreterinnen und Vertreter von Betroffeneninitiativen angehörten.
Die Medienberichte haben sich bisher vor allem auf Berichte von Betroffenen gestützt, von denen etliche inzwischen als gedruckte Publikationen vorliegen. Mit dem umfangreichen Forschungsbericht liegt nun erstmals eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung dieses großen, aber lange unbeachteten Arbeitsfeldes der Wohlfahrtspflege vor. Er dürfte die Grundlage bilden für weitere Gespräche mit den Betroffenen und für deren Bemühungen um eine individuelle Aufarbeitung ihrer Erlebnisse. Die Studie steht zum Download zur Verfügung; sie wird begleitet von einem Verzeichnis von mehr als 2.000 Kinderkur- und -erholungsheimen, die im Zuge der Forschung ermittelt wurden. Mehr Informationen sowie Fragen und Antworten sind auf diakonie.de zu finden.