Geht das? Einwanderung verringert langfristig die öffentliche Verschuldung
Tragfähigkeitsbericht des Finanzministers
Johannes Brandstäter
„Eines der größten Potenziale zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen liegt in der Zuwanderung.“ So stellt es eine haushaltspolitische Expertise der Bundesregierung fest. Die Zuwanderung, von der hier die Rede ist, wird seit Jahrzehnten stark von humanitär bedingten Aufnahmen geprägt. Eines der vielen Tätigkeitsfelder der Diakonie ist berührt. Die soziale Arbeit der Diakonie zu Flucht und Migration kostet Geld, doch diese Ausgaben können als Ausgaben zur Sicherung des zukünftigen Wohlstands betrachtet werden. Wie geht das?
Bereits vorher schon gab es Berechnungen, wonach Einwanderung sich auf Arbeitsmarkt und Beiträge zur Sozialversicherung günstig auswirkt. Der bereits im März 2024 zuzeiten der vorherigen Bundesregierung veröffentlichte Sechste Tragfähigkeitsbericht des Bundesfinanzministeriums verwendet jedoch eine andere Methode als frühere Untersuchungen, nämlich das Konzept der Tragfähigkeitsanalysen. Das Bundesfinanzministerium zeigt dort mögliche Entwicklungen der öffentlichen Finanzen auf. Der Bericht verarbeitet Erfahrungen, wie die Staatsausgaben und -einnahmen Deutschlands Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt, langfristig beeinflussen. Dabei rechnet das Ministerium unter anderem nach, wie sich die Einwanderung in den letzten zehn Jahren ausgewirkt hat. Daraus entwickelt es Szenarien, wie sich die Staatsfinanzen und die Systeme der sozialen Sicherung zukünftig bis 2070 entwickeln könnten. Die wichtigsten Faktoren sind die Geburten und die Lebenserwartung sowie die Höhe der Nettozuwanderung. Der Einwanderungssaldo ist schwierig vorhersagbar, er unterliegt von Jahr zu Jahr großen Schwankungen, zuletzt durch den Ukrainekrieg bedingt. Das Ministerium spielt zwei Szenarien durch, einen Überschuss von 150 000 und einen von 350 000 Einwandernden jährlich.
Die höhere Nettozuwanderung bringt wenig überraschend höhere öffentliche Ausgaben mit sich. Doch wächst mit der höheren Einwanderung auch die Wirtschaftsleistung, und zwar noch stärker, so dass der Anteil der demografieabhängigen öffentlichen Ausgaben an der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) langfristig sinkt (Seite 21). So könnte dieser Anteil 2070 beim Szenario der höheren Einwanderung mit 32,4 Prozent niedriger ausfallen als beim Szenario der geringeren Einwanderung - dort wären es 35,3 Prozent.
Realistisch dürfte eher das Szenario der höheren Zuwanderung sein: Im Durchschnitt der letzten zehn Jahre betrug der Wanderungssaldo mehr als +550 000. Das Bundesfinanzministerium legt deshalb ein weiteres Szenario mit der Einwanderung von netto 450.000 Menschen jährlich vor. Dann könnte die Einwanderung sogar noch einmal stärker zur Linderung der Quote der öffentlichen Verschuldung (Seite 70) beitragen, um gut einen Prozentpunkt.
Bemerkenswert ist: „Die Berechnungen basieren auf der Annahme, dass die künftige Zuwanderung ähnlich verlaufen wird wie bisher, also vor allem junge und gering qualifizierte Menschen insbesondere als Geflüchtete nach Deutschland kommen – und dass diese im Laufe der Zeit vergleichbare Arbeit zu ähnlichen Löhnen aufnehmen.“ Noch günstiger wird die Entwicklung der Verschuldungsquote bei einer frühzeitigeren Integration Schutzsuchender von Anfang an und bei einer Beschäftigung entsprechend der mitgebrachten Qualifikation zu entsprechend höheren Löhnen. Asyl- und migrationspolitisch bedeutet dies: Die Aufnahme aus humanitären Gründen ist Ausdruck gelebter Solidarität und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, ohne den allgemeinen Wohlstand zu gefährden. Und Spurwechsel von humanitären zu erwerbsorientierten Aufenthaltstiteln sind sinnvoll, da die direkte internationale Anwerbung zu Erwerbszwecken trotz aller gesetzlichen Anreize nicht erfolgreich genug verläuft.
Sind damit alle Sorgen um die Folgen der hohen Einwanderung unbegründet? Leider nicht. Zum Beispiel: Die Einwanderung verstärkt einen ungünstigen Trend der allmählichen Abwanderung von benachteiligten ländlichen Regionen in die boomenden Ballungsgebiete. Auf die ohnehin schon dringlichen Anforderungen an Umbau und Modernisierung der Infrastruktur, und vor allem der Wohnraumbeschaffung in den Städten, setzt die Einwanderung noch eins drauf. Noch ernster ist es im Bereich Schulen und Kitas. Vor allem in Stadtvierteln, die besonders von Einwanderung geprägt sind, schwächelt das Bildungssystem. Mehr als vierzig Prozent der Schulkinder haben einen Migrationshintergrund. Gleiche Bildungschancen für alle Kinder benötigen deutlich höhere Investitionen. Ein Experte fordert sogar eine Verdoppelung der Bildungsausgaben. Der Tragfähigkeitsbericht bleibt hinsichtlich der Bildungsausgaben indes recht vage. Interessant wäre gewesen, den dort zugrunde gelegten Bildungsausgaben von 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Seite 38) das Szenario eines Aufwuchses auf, sagen wir, 6 Prozent gegenüber zu stellen.