16.12.2021
© Diakonie/Francesco Ciccolella

Armut und Geschlecht

Statistiken machen deutlich, dass soziale Benachteiligung, Armut und soziale Ausgrenzung in hohem Maße „geschlechtsspezifisch“ bestimmt sind. Woran liegt das? Und welche anderen Befunde gibt es, die geschlechtsspezifische Benachteiligungen beschreiben?

16.12.2021

Das Wissen Kompakt bietet Hintergründe und Zahlen zu geschlechtsspezifischer Armut.

Wie hängen Armut und Geschlecht zusammen?

Armut oder soziale Ausgrenzung gefährden Menschen in unterschiedlichem Maße. Dies hängt unter anderem von ihrer Lebens- und Familiensituation, ihrer sozialen Herkunft, dem Bildungsstand, der Migrationsgeschichte oder dem Erwerbsstatus ab.

Statistiken machen deutlich, dass soziale Benachteiligung, Armut und soziale Ausgrenzung in hohem Maße „geschlechtsspezifisch“ bestimmt sind. Dies zeigt die Auswertung des Mikrozensus für das Erhebungsjahr 2019: So ist das Armutsrisiko von Frauen mit 16,6 Prozent insgesamt größer als das von Männern (15,4 Prozent). Je höher das Lebensalter der Menschen, desto ausgeprägter ist das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Altersarmut steigt zwar insgesamt seit Jahren. 2019 lag das Armutsrisiko von Menschen mit 65 und mehr Lebensjahren bei 15,7 Prozent und damit fast beim allgemeinen Durchschnitt von 15,9 Prozent. Allerdings haben Frauen im Alter ein Armutsrisiko von 17,4 Prozent und liegen damit spürbar über dem gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt – während Männer im Seniorenalter mit 13,5 Prozent ein unterdurchschnittliches Armutsrisiko haben.

Was heißt „geschlechtsspezifisch“?

Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler unterscheiden zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht. Dass ein Mensch biologisch weiblich oder männlich ist, sagt noch nichts über soziale Rollen oder die eigene Identität aus. Das soziale Geschlecht entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Vorstellungen von „Männlichkeit“ oder „Weiblichkeit“, wenn Kinder aktiv ihre Geschlechteridentität entwickeln und nach Rollenvorbildern suchen. Diese Entwicklung kann durch Anpassung oder Konflikte geprägt sein.

Vorstellungen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ haben sich über die Jahrhunderte immer wieder neu ausgeprägt oder weiterentwickelt. So gilt zum Beispiel die Farbe „Rosa“ heute als „weiblich“ und wird etwa von der Spielzeugindustrie für „Mädchensachen“ verwendet. Noch in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts galt Rosa aber als besonders männlich und Blau als „Mädchenfarbe“.

Auch Vorstellungen von Berufstätigkeit, von „männlichen“ oder „weiblichen“ Jobs, Einkommensmustern oder typisch „männlichen“ oder „weiblichen“ Lebenswegen sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Während zum Beispiel im Mittelalter Handwerksmeisterinnen in großen Städten ihr Gewerbe selbstbewusst ausübten, galt „Hausfrau und Mutter“ spätestens seit dem 19. Jahrhundert allgemein als das erstrebenswerte weibliche Rollenziel. Auch die Bezahlung und Wertschätzung für bestimmte Berufe änderte sich je nach Klassifizierung als „männlich“ oder „weiblich“. Während etwa „Sekretäre“ bis in die Neuzeit hinein als hochbezahlte „Geheimnisträger“ galten, erfuhr der Beruf eine deutliche Abwertung mit Einführung der Schreibmaschine und Degradierung von „Sekretärinnen“ zu Tipp- und Schreibkräften.

In Westdeutschland setzte sich in den 50er-Jahren ein als „traditionell“ wahrgenommenes Rollenverständnis abschließend als gesellschaftliche Norm durch. Männer galten im familiären Kontext als „Ernährer“, Frauen als Mütter, die ggf. noch etwas „dazu verdienen“. Familienarbeit wurde als unentgeltliche weibliche Arbeit etwa durch das Ehegattensplitting abgesichert, mit dem die Hausfrauenehe steuerlich privilegiert wurde. Bis in die 70er-Jahre galt hier weibliche Erwerbstätigkeit in bürgerlichen Kreisen als ungewöhnlich, die Erwerbstätigkeit von Ehefrauen musste entsprechend der gesetzlichen Regelungen bis 1977 vom Ehemann genehmigt werden.

Hintergrund und Zahlen

Geschlecht, Privilegien, Benachteiligungen

Eine Statistik zu Einkommen, beruflichen Erfolgen, Ausgrenzungserfahrungen oder Armut kann nur als Abbild der Auswirkungen von geschlechtsbezogenen Rollenbildern gelesen werden. Wenn Frauen statistisch gesehen mit einem größeren Armutsrisiko leben, ergibt sich dies aus Rollenzuschreibungen und damit verbundenen Nachteilen, nicht aus dem biologischen Geschlecht oder vermeintlich spezifisch weiblichen angeborenen Eigenschaften.

Ein Beispiel: Wenn Kinderbetreuung „Frauensache“ ist und öffentliche Betreuungsangebote fehlen, bedeutet dies eine hohe Hürde für den eigenen wirtschaftlichen und beruflichen Erfolg von Frauen, die diese „weibliche“ Rolle erfüllen. In einer Gesellschaft, die Berufstätigkeit nicht durch Betreuungsmöglichkeiten unterstützt, könnte aber auch ein Mann, der ohne weitere Unterstützung Kinder erzieht, keinen beruflichen oder wirtschaftlichen Erfolg haben. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es für durch ihre Geschlechterrolle privilegierte Männer unattraktiv ist, eine unterprivilegierte – vermeintlich „weibliche“ – Rolle einzunehmen.

Auch Männer können die vorgegebenen Geschlechterrollen als problematisch erleben. Eine „männliche“ Orientierung auf Stärke, Macht, Geld, Tapferkeit verbunden mit Homophobie, Transphobie und der Abwertung von Weiblichkeit erleben viele Jungen und Männer als Belastung.

Daher eröffnet die Überwindung geschlechtsspezifischer Benachteiligungsstrukturen allen Menschen mehr Möglichkeiten, ihnen entsprechende und auch diverse Rollen zu entwickeln. Eine geschlechtsbezogene Emanzipation hilft nicht nur, verfestigte Ausgrenzungsstrukturen zu überwinden, sondern ermöglicht allen Menschen eine freiere und selbstbestimmtere Entwicklung.

Ehe, Familie, Politik

Das seit Beginn der Neuzeit immer stärker tradierte Gender-Rollenbild der „klassischen Familie“ ist mit weiteren Faktoren verbunden, die die gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen prägen und stabilisieren.

So führt die Trennung von Arbeitsplatz und Familienwohnung sowie von Arbeit und Freizeit zur Notwendigkeit, während der Arbeitszeit Betreuung zu organisieren. In einem mittelalterlichen Handwerks- oder landwirtschaftlichen Betrieb war beides verbunden.

Das lange prägende konservative Idealbild einer lebenslangen heterosexuellen Ehe bedeutet zum einen eine Versorgungs- und Wirtschaftsgemeinschaft, in der sich die Partner ergänzen und voneinander profitieren können. Dieses Arrangement ist aber nur so lange von Vorteil für beide, wie sie sich darüber einig sind, wer welchen Aufgaben und Tätigkeiten in welchem Umfang nachgeht. Das Bild eines „Ernährers“ schreibt die Rolle des Mannes als Haupt- oder Alleinverdiener und die Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter fest. Beide Partner sind so in ihren Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt.

Dem entsprechen heute nach wie vor die rechtlichen Regelungen, die mit der Ehe verbunden sind. Nehmen Partner das Ehegattensplitting und die damit verbundenen Steuererleichterungen bei unterschiedlich hoher Erwerbsbeteiligung in Anspruch, gerät meist die Frau in die Rolle der „Zuverdienerin“ mit der ungünstigeren Steuerklasse und der höheren Familienverantwortung. Im Falle einer Trennung können dadurch entstandene langjährige Nachteile in der beruflichen Entwicklung nicht mehr kompensiert werden. Die Unterhaltsverpflichtung des Mannes steht der beruflichen Ausgrenzung der Frau gegenüber.

Besonderes Armutsrisiko von Alleinerziehenden

Ein außerordentlich hohes Armutsrisiko von mehr als einem Drittel haben Alleinerziehende (zu 88 Prozent Frauen). 40 Prozent der Alleinerziehenden beziehen Grundsicherungsleistungen.

Getrennterziehende Väter wiederum haben im Falle eines Umgangsrechts kein ausreichendes Recht auf die Finanzierung der damit verbundenen Bedarfe, wenn sie auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind. Die geringfügigen Leistungen, die sie bekommen, werden unmittelbar vom Existenzminimum der Alleinerziehenden abgezogen. Je stärker im Falle eines Anspruchs auf Grundsicherung beide Eltern Erziehungsverantwortung wahrnehmen, desto prekärer wird dadurch die finanzielle Situation für beide.

Im Gegensatz dazu ist statistisch gesehen das Armutsrisiko von zusammenlebenden Eltern mit nicht mehr als zwei Kindern im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen am geringsten und liegt bei unter zehn Prozent. Genau in diesen Fällen wirkt die „Familienförderung“ optimal. Trennungen führen dagegen in vielen Fällen unmittelbar und schnell zu sozialer Not. In anderen Familienformen lebende Menschen haben ein hohes Armutsrisiko und erhalten deutlich weniger finanzielle Förderung. Offenbar gibt es eine (weitgehend patriarchal geprägte) „Norm“, die bei Erfüllung meist zu guter Familienförderung führt, während „Abweichungen“ vergleichsweise negative Folgen haben.

Gender Pay Gap

Frauen verdienen im gesamtdeutschen Durchschnitt 18 Prozent weniger als Männer, in Westdeutschland 20 Prozent, in Ostdeutschland sechs Prozent. Dieser unbereinigte Gender Pay Gap ist seit 2002 fast konstant. Die Lohnunterschiede ergeben sich daraus, dass Frauen aufgrund familiärer Tätigkeiten weniger Karriere machen und öfter in Teilzeit ohne weitere Aufstiegschancen arbeiten.

Der bereinigte Gender Pay Gap – also der Lohnunterschied bei direkt vergleichbaren Tätigkeiten – beträgt laut Statistischem Bundesamt seit 2014 unverändert sechs Prozent. Der insgesamt höhere Lohnunterschied liegt laut Institut der Deutschen Wirtschaft daran, dass Frauen häufiger ihre Tätigkeit unterbrechen und bei der Berufswahl schlechter bezahlte Berufe wählen.

Auch in diakonischen Arbeitsfeldern ist der Gender Pay Gap spürbar. Die bestehende Tarifstruktur und Unterschiede in den Berufsbiographien führen zu finanziellen Vorteilen für langjährig beschäftigte Männer. Die schlechtere Bezahlung „weiblicher“ Tätigkeiten ist auch ein Ergebnis der entsprechenden geringeren öffentlichen Refinanzierung dieser Aufgaben.

Berufswahl, Berufsbilder und Wertschätzung

Schon die Berufs- und Ausbildungswahl ist oft von Geschlechterstereotypen geprägt. Jungen streben überwiegend die sogenannten „MINT“- Berufe in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik an, während die „SAGE“-Berufe (Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Erziehung und Bildung) frauendominiert sind. In diesen sozialen Bereichen ist nicht nur die Bezahlung schlechter. Schon die Ausbildung selbst erfolgt meist schulisch ohne Gehalt oder ist sogar mit Gebühren verbunden. Ansprüche in der Altersvorsorge werden in entsprechend geringerem Maße aufgebaut, was in Verbindung mit Teilzeit und Familienphasen zu Altersarmut führen kann.

Mit großem Aufwand betreibt die Bundesregierung Kampagnen, um Mädchen auch für „männliche“ und Jungen für „weibliche“ Berufe zu interessieren. Was dabei kaum thematisiert wird: Die vermeintlich „weiblichen“ Tätigkeitsfelder sind nicht „schlechter“. Es gibt nicht zu viele Verkäuferinnen, Erzieherinnen oder Sozialarbeiterinnen. In vielen der entsprechenden Berufsfelder herrscht ausgesprochener Personalmangel. Dieser ist aber auch Folge der fehlenden finanziellen Wertschätzung, die diese Berufe erfahren. Hier ist die Tarifbindung eher geringer, Bezahlung und Aufstiegschancen sind schlechter.

Um eine Tätigkeit in bestimmten Berufsfeldern aufzuwerten, muss neben dem Durchbrechen stereotyper Rollenmuster auch die finanzielle Attraktivität der Berufsfelder im Blick sein. So sind Pflegerinnen und Erzieherinnen nicht schlecht bezahlt, weil die Berufe weniger qualifiziert oder notwendig wären. Die schlechte Bezahlung ist Ergebnis gesellschaftlicher Abwertung und der über Jahrzehnte tradierten Erwartung, dass etwa „Krankenschwestern“ oder „Kindergärtnerinnen“ alleinstehend sind, nur bis zur Hochzeit arbeiten oder aber aus höheren Idealen eine Tätigkeit mit Menschen „für Gotteslohn“ anstrebten.

„Systemrelevante Berufe“

Im Zuge der Corona-Krise galten plötzlich die schlecht bezahlten Tätigkeitsfelder Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Erziehung und Bildung genauso als systemrelevant wie die oft in Teilzeit und mit schlechter Bezahlung verbundenen Arbeitsstellen im Einzelhandel.

Diese Problematik fasst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung wie folgt zusammen: „Die Mehrheit der als systemrelevant definierten Berufe weist jedoch außerhalb von Krisenzeiten ein geringes gesellschaftliches Ansehen und eine unterdurchschnittliche Bezahlung auf. Der Frauenanteil ist hingegen überdurchschnittlich. (…)  Die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Unverzichtbarkeit und tatsächlicher Entlohnung ist in Krisenzeiten besonders offensichtlich. Deshalb sollten auf kollektive Dankbarkeit konkrete Maßnahmen folgen, wie eine höhere Entlohnung und eine breitere tarifvertragliche Absicherung.“

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf ist seit Jahren drängendes politisches Thema. So wurden und werden Ganztagsbetreuungsplätze ausgebaut und Rechtsansprüche geschaffen. Während der Corona-Kontaktbeschränkungen wurde jedoch viel zu oft davon ausgegangen, dass Eltern weiterhin Vollzeit arbeiten und zugleich Kinderbetreuung leisten können – oder aber beruflich aussetzen, etwa über das erweiterte Kinderkrankengeld. So hat die Familienarbeit von Müttern und Vätern während der Schließung der Kindertageseinrichtungen und Schulen deutlich zugenommen. Überwiegend für die Mütter wurde die Haus- und Familienarbeit zum Fulltime-Job. Folge der Corona-Krise ist so eine neuerliche und weitere Zementierung von Geschlechterrollen.

Gleichwohl überzeugt ein Familienmodell, bei dem er in Vollzeit, sie in Teilzeit arbeitet, immer weniger Eltern. Mütter und Väter wünschen sich eine partnerschaftliche Aufteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit. So erzielt laut des Bundesfamilienministeriums mehr als zwei Drittel der erwerbstätigen Mütter ein Einkommen, mit dem sie sich materiell absichern können. Knapp einem Drittel gelingt dies jedoch nicht.

Auch die Elterngeldregelungen setzen Anreize, die eher patriarchal geprägte Geschlechterrollen verfestigen. Wo der männliche Partner mehr verdient, ist es für diesen weniger attraktiv, Elternzeit zu nehmen. Die finanziellen Verluste sind größer als in der Elternzeit der Partnerin. Noch immer nehmen die meisten Männer keine Elternzeit. Wenn doch, sind zwei Vätermonate die Regel und mehrmonatige Elternzeiten durch Väter die Ausnahme. So berichtet das statische Bundesamt: Im Jahr 2019 waren fast ein Viertel aller Mütter, deren jüngstes Kind unter sechs Jahren ist, in Elternzeit. Unter den Vätern traf dies nur auf 1,6 Prozent zu.

Aber auch das Ideal einer Vollzeit-Kinderbetreuung stößt an seine Grenzen. Familien brauchen Zeit. Ein Familienleben, das erst ab 18:00 Uhr stattfindet und morgens um 7:00 Uhr endet, ist oft hochgradig konfliktbelastet. Deswegen wählen viele Familien Arbeitszeitmodelle, die eine Vollzeitarbeit für beide Eltern vermeiden. Familien-Arbeitszeitmodelle, bei denen aber beide vollzeitnah arbeiten, wie dies zum Beispiel die ehemalige Familienministerin Manuela Schwesig vorschlug, sind wenig verbreitet und gefördert. Sie würden die Hürde zu einer gerechteren und einvernehmlicheren Aufteilung von Familienarbeit zwischen Eltern aber deutlich senken. Darüber hinaus können Betreuungszeiten nicht statisch definiert werden. Ist ein Kind krank, wird es von keiner Kita betreut. Arbeiten Eltern im Schichtdienst, können sie sich nicht an fixe Öffnungszeiten halten. Darum benötigen viele Eltern flexible und anpassungsfähige Betreuungs-  und Arbeitszeitmodelle.

Existenzsicherung

Weniger erwerbslose Frauen (45 Prozent) als Männer beziehen Grundsicherungsleistungen. Bei den Langzeit-Leistungsbeziehenden ist der Frauen-Anteil dagegen mit 52,1 Prozent etwas größer, während die Geschlechterverteilung bei allen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten fast ausgeglichen ist. Auch haben viele Frauen keinen Leistungsanspruch, da sie als Teil einer Bedarfsgemeinschaft mit einem mehr verdienenden Partner hierdurch die Anspruchsgrenze überschreiten.

Arbeitsförderung

Die Sozialwissenschaftlerinnen Karen Jaehrling und Clarissa Rudolph wiesen 2010 nach, dass Leistungen der Arbeitsförderung sich sehr stark am Ziel der Arbeitsvermittler für einen „Ernährer“ ausrichteten und Frauen mit Kindern deutlich schlechtere Fördermöglichkeiten hatten.

Infolge der Veröffentlichung gab es Bemühungen der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsförderungsmaßnahmen geschlechtergerechter auszurichten, etwa, in dem für Alleinerziehende auch weniger starre Maßnahmenumfänge angeboten wurden. Die Unterrepräsentation von Frauen bleibt jedoch bei vielen Maßnahmen bestehen und setzt sich auch beim neu geschaffenen Regelinstrument der öffentlich geförderten Beschäftigung „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§16i SGB II) fort.

Es gibt immer noch starke Hinweise darauf, dass die Förderung der Erwerbsbeteiligung wenig zur Lebensrealität von Erziehenden passt. Dies liegt auch an der weiterhin gegebenen Fixierung der Grundsicherungsleistungen auf schnelle Arbeitsvermittlung bzw. Verlassen des Leistungsbezuges. Differenzierte Angebote, die sich vor allem an Teilhabe an Arbeit orientieren, ohne die ganze Lebenssituation zu dominieren, fehlen. Dies führt oft zu widersprüchlichen und insgesamt wenig hilfreichen Resultaten. So erleben nach Berichten aus diakonischen Beratungsstellen junge Mütter, dass sie während der ersten drei Lebensjahre ihres Kindes keinerlei Förderangebote erhalten, während andernorts noch Hochschwangere mit Sanktionsdrohungen auf Bewerbungen oder Maßnahmenteilnahme verpflichtet werden.

Prekäre Beschäftigung

Von prekärer Beschäftigung besonders betroffen sind Mütter. Der Spagat zwischen Familie und Beruf führt oft dazu, dass Mütter geringfügige, schlecht bezahlte und wenig abgesicherte Stellen und Minjobs übernehmen. Diese dienen dem Zuverdienst zum Familieneinkommen oder zur Grundsicherung. Prekär und geringfügig Beschäftigte sind in der Krise aber auch die ersten, die freigesetzt werden bzw. werden können. So wies die Hans-Böckler-Stiftung für die Zeit der Corona-Krise seit 2020 nach, dass insbesondere Minijobs schnell abgebaut wurden.

Besondere Armutsrisiken

Geschlechtsbezogene Armutsrisiken kumulieren in bestimmten Lebenssituationen und -lagen. Einige davon werden hier beispielhaft thematisiert:

Alter

Der Mikrozensus (2019) zeigt: Das Armutsrisiko von Frauen (16,6 Prozent) ist in allen Altersgruppen höher als das von Männern (15,2 Prozent). Altersarmut nimmt insgesamt zu (15,7 Prozent), betrifft aber im überdurchschnittlichen Maße Frauen (17,4 Prozent) und weniger Männer (13,5 Prozent).

Im Vergleich von 26 OECD-Ländern haben Frauen um 25 Prozent niedrigere Alterseinkommen als Männer. In Deutschland ist diese Lücke mit 46 Prozent deutlich größer. Dies liegt vor allem an niedrigeren Rentenansprüchen aufgrund von Teilzeit oder familiär bedingten Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit sowie an der durchschnittlich schlechteren Bezahlung von Frauen, da die Rentenansprüche in Deutschland sehr stark von Beitragszahlungen abhängen (Äquivalenzprinzip). Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sieht insbesondere einen hohen Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des Arbeitsmarktes und den Rentenansprüchen: „Gender Pension Gaps hängen signifikant mit geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Erwerbstätigenquote und Teilzeitbeschäftigung zusammen“.

Alleinerziehende

Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden (42,7 Prozent; Mikrozensus 2019) ist mehr als doppelt so hoch wie im gesellschaftlichen Durchschnitt (15,9 Prozent).

Ulrike Gebelein, Referentin für Kinderpolitik, Familienförderung und Familienerholung der Diakonie Deutschland, beschreibt die Situation Alleinerziehender wie folgt: Knapp jedes 5. Kind wächst mit einer alleinerziehenden Mutter oder einem alleinerziehenden Vater auf. 88 Prozent der alleinerziehenden Eltern sind Mütter. 68 Prozent der Mütter sind berufstätig, davon 42 Prozent in Vollzeit. 39 Prozent der Haushalte von Ein-Eltern-Familien sind auf SGB II-Leistungen angewiesen.

Kinder sind mit ihren Familien arm. Das Pro-Kopf-Einkommen in Ein-Eltern-Familien ist um 20 Prozent geringer als in Paarfamilien. Im Jahr 2018 hatten alleinerziehende Familien durchschnittlich weniger als 1.700,-  Euro monatlich zur Verfügung. Die Mütter sind überwiegend – trotz guter Berufsausbildung – in schlecht bezahlten Berufsfeldern tätig.

Alleinerziehende sind gegenüber Verheirateten mit und ohne Kinder im Steuerrecht benachteiligt. Mit der Steuerklasse II konnten Alleinerziehende bisher jährlich einen Steuerentlastungsbetrag von 1.908 Euro für ein Kind geltend machen. Ab 2021 wurde dieser Betrag Corona-bedingt auf 4008,- Euro im Jahr erhöht. Gehen bisher Alleinerziehende eine neue Partnerschaft ein, ohne zu heiraten, verlieren sie jeglichen Steuervorteil. Ehepaare können dagegen ihre Gesamteinkünfte durch das Ehegattensplitting zunächst rechnerisch auf beide Partner verteilen und dann versteuern. Hierdurch kann bis zu 15.000 Euro Steuervorteil im Jahr erreicht werden.

Alleinerziehenden bleibt in der Regel nur das Kindergeld; dies wird beim Unterhaltsvorschuss vollständig auf den Mindestunterhalt angerechnet. Circa die Hälfte der barunterhaltspflichtigen zahlen keinen oder können keinen Unterhalt zahlen.

Bildung

Das Schulsystem stellt Jungen, die sich an besonders „männlichen“ Rollenvorstellungen orientieren, verbunden mit einem herausfordernden Verhalten, vor große Probleme. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt in Grundschulen, an denen mehrheitlich Frauen als Lehrerinnen arbeiten, die selbst wiederum schlechter als an anderen Schulformen bezahlt werden. Eher „weibliche“ soziale Kompetenzen und kooperative Lernformen sind die schulische Norm. Im Ergebnis bekommen Mädchen oft bessere Noten und Schulabschlüsse.

Dennoch geraten sie im weiteren Lebensverlauf ins Hintertreffen. Die Berufswahl, familiäre Vorstellungen über ihre weitere Entwicklung, Familienpausen und Pflegearbeit erschweren die weitere Qualifikation und das berufliche Fortkommen.

Gewalt

Gewalt gegen Frauen ist ein Massenphänomen, so der Gleichstellungsbericht von 2017: „37 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben in ihrem Erwachsenenleben mindestens einmal körperliche und/oder sexualisierte Übergriffe erlebet; etwa jede siebte in Deutschland lebende Frau musste seit ihrem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante sexuelle Gewalt erleiden. (…) Von unterschiedlichen Formen geschlechtsbezogener Belästigung im öffentlichen und privaten Raum sowie in Arbeitskontexten berichten fast 60 Prozent der Frauen.“

Geschlechtsbezogene und meist sexualisierte Gewalt erleben sehr viele, Belästigung 2/3 aller Frauen. Für das Jahr 2019 meldete das Bundeskriminalamt 141.792 Opfer von Partnerschaftsgewalt. In 81 Prozent der Fälle waren die Opfer Frauen. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich wesentlich höher. Die Auswirkungen sind häufig gravierend und reichen von gesundheitlichen wie körperliche Verletzungen oder psychosomatische Beschwerden über soziale und ökonomische Folgen. Partnerschaftsgewalt ist kein schichtenspezifisches Problem, aber verbunden mit einem Armutsrisiko. Sehr deutlich zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Häuslicher Gewalt und Erwerbstätigkeit durch häufige und lange Krankenstände oder Arbeitsunfähigkeit. Wird Schutz in einem Frauenhaus gesucht, ist dies nicht selten verbunden mit dem Verlust der Wohnung und des Arbeitsarbeitsplatzes. Hinzu kommt, dass je nach Finanzierungsart des Frauenhauses die Betroffene die Unterstützungsleistungen (teilweise) selbst finanzieren muss.

Wohnungslosigkeit

Wohnungslosigkeit betrifft Männer und Frauen auf jeweils besondere Weise. Die Mehrzahl wohnungsloser Männer ist alleinlebend. Vielen fällt es schwer, frühzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch Trennungen können zu Wohnungslosigkeit führen. Männer, die die gemeinsame Wohnung verlassen mussten und gewohnt sind, dass ihre Partnerin die Sorgearbeit für die Familie und schließlich auch ihren Partner übernimmt, können sich nach Trennungen oft nur schwer selbst helfen. Nach den Hochrechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) zur Zahl der Wohnungslosen in Deutschland sind zwei Drittel männlich, ein Viertel weiblich und knapp ein Zehntel Kinder. Der Anteil von Frauen an den wohnungslosen Menschen nimmt dabei langsam zu. Dabei ist der Anteil von Männern umso größer, je härter die Lebenssituation ist. Nach der Berliner Straßenzählung sind 83 Prozent der ganz auf der Straße lebenden Obdachlosen Männer.

Im Bereich der geschlechtsspezifischen Ausrichtung von Hilfen und entsprechender öffentlicher Förderung gibt es weiterhin Nachholbedarf. So richten sich viele Hilfen an Männer, ohne auf Männer ausgerichtet zu sein, einen Blick auf deren Rollenverständnis zu haben oder die damit verbundene Problematik aufarbeiten zu können. Zugleich fehlen spezifische Hilfen für Frauen, die ihnen besondere Schutzräume bieten. Die Wohnungslosigkeit von Frauen steht oft mit Gewalterfahrungen in Zusammenhang. Auch Angebote für Wohnungslose mit Kindern fehlen.

Zudem ist davon auszugehen, dass die Hilfebedarfe von wohnungslosen Frauen oft nicht erkannt werden. Hierzu schreibt die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz: „Die Anzahl ist schwer zu erheben, weil Frauen seltener auf der Straße leben, sondern versuchen, bei Freundinnen oder in neuen Zweckbeziehungen Unterschlupft zu finden, was oft neue Probleme mit sich bringt.“

Zur Verbesserung der Situation wohnungsloser Frauen liegen Positionspapiere der BAG W vor. Auch die Diakonie hat umfassende Vorschläge erarbeitet und setzt diese in besonderen Angeboten um. Frauen suchen nach den Erfahrungen der BAG W frühzeitig Hilfen und sind für präventive Angebote gut erreichbar. Diese sollten demnach ausgebaut werden. Auch eine geschlechtsspezifische Wohnungsnotfallberichterstattung ist nach Ansicht der Diakonie nötig.

Haftstrafen

Haftstrafen haben ein hohes Armutsrisiko zur Folge. Die soziale Reintegration im Anschluss ist nicht einfach. Haftstrafen treffen zu einem großen Teil Männer und sind oft Folge von „männlichem“ herausforderndem bis gewalttätigem Verhalten. Nur sechs Prozent aller Insassen von Haftanstalten sind Frauen. Von den zu einer Haftstrafe Verurteilten sind 94 Prozent Männer, bei einer Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren zu 98 Prozent, bei einer lebenslangen Haftstrafe zu 94 Prozent, bei 5 bis 15 Jahren Haftstrafe zu 97 Prozent Männer.

Inhaftierte Frauen sind oft selbst von Kindheit an Gewaltopfer. Sie haben viermal so oft körperliche und sechsmal so oft sexualisierte Gewalt erlebt wie andere Frauen. Oft fehlen ihnen ein Schul- oder Berufsabschluss. Im Gefängnisalltag sind sie „eine Randgruppe innerhalb der Randgruppe“ der Inhaftierten. Ihre Stigmatisierung ist weit gravierender als die von inhaftierten Männern.

Bewertung und Vorschläge der Diakonie

Alle Menschen sollen selbst bestimmen können, welche Rollen sie einnehmen möchten. Soziale Rollen sind nicht „weiblich“ oder „männlich“. Diese Zuschreibungen sind Ergebnis diskriminierender Traditionen.

Dementsprechend müssen das Sozialsystem und die Familienpolitik im Sinne eines „Gender Mainstreaming“ im Zusammenwirken mit einem „Armuts-Mainstreaming“ weiterentwickelt werden. Fragen geschlechtsbezogener Diskriminierungen müssen unmittelbar benannt und aufgearbeitet werden.

Dabei ist auch das Eheverständnis zu hinterfragen. Die Ehe kann eine Solidargemeinschaft sein, die die Entwicklungsmöglichkeiten der Partnerinnen und Partner stärkt. Eherechtliche Regelungen, die dagegen Fehlanreize setzen, die berufliche oder persönliche Entwicklung ungleich auszugestalten, müssen überwunden werden. Familien- und Pflegearbeit sollen sozialrechtlich und in der Sozialversicherung besser berücksichtigt werden.

Die Überwindung der prekären Situation vieler Alleinerziehender und ihrer Kinder muss ein zentrales Anliegen der Familienpolitik werden. Trennungen sollen nicht vorrangig im Grundsicherungssystem teilkompensiert werden, sondern die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts muss Ziel der Familienpolitik sein. Umgang und gemeinsame Erziehung getrennt lebender Eltern müssen so geregelt werden, dass der insgesamt höhere Bedarf von Kindern getrennt lebender Eltern anerkannt wird.

Die finanzielle Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt muss ein Ende haben. Weiblich geprägte Berufsfelder sind neu zu bewerten und besser zu bezahlen, Zugänge zu Berufsfeldern für alle Geschlechter gleichermaßen attraktiv zu gestalten. Hier hat auch die Diakonie in ihren eigenen Einrichtungen eine wichtige Gleichstellungsaufgabe.

Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen besser gelöst werden. Flexible Arbeitszeitmodelle sollen Familien angeboten und umgesetzt werden. Insbesondere die Möglichkeiten vollzeitnaher Teilzeit sind weiterzuentwickeln und besser zu fördern. Betreuung muss die Lebensrealität abbilden, auch bei Krankheit der Kinder oder in Randzeiten.

Die Leistungen der Existenzsicherung sind umfassend auf ihre geschlechtsspezifischen Auswirkungen hin zu überprüfen. Die geltenden Regelungen zur Bedarfsgemeinschaft führen dazu, dass Frauen schlechter Leistungsansprüche erreichen können. Auch die Arbeitsförderung muss sich stärker an den Lebenslagen von Frauen und Erziehenden orientieren.

Altersarmut ist oft Ergebnis von geschlechtsspezifischer Benachteiligung im Erwerbsalter und daraus folgenden geringen Ansprüchen in den Alterssicherungssystemen. Die Diakonie Deutschland setzt sich für ein System der Mindestrente ein, das den Erwerb jeglicher, auch geringer,  Rentenansprüche fördert und Abbruchkanten bei längerer oder höherer Beitragszahlung vermeidet.

Der Schutz vor Gewalt und Wohnungslosigkeit muss die damit verbundenen spezifischen Rollenerfahrungen von Männern und Frauen berücksichtigen. Hilfeangebote sollen eine Emanzipation von Rollenvorstellungen fördern, die Hilfebedürftigkeit auslösen oder verstärken. Dies muss auch Gegenstand entsprechender Förderprogramme sein. Die Schutzbedürftigkeit von Frauen mit Gewalterfahrung muss immer Vorrang vor Einsparungen und Modellen der finanziellen Selbstbeteiligung haben.

Text und Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner:

Weitere Informationen zu Armut und Geschlecht

Kontakt

Frieda Wittenborn
©Hermann Bredehorst

Frieda Wittenborn

Gendergerechte Ansätze in der Sozialpolitik und Sozialen Arbeit

frieda.wittenborn@diakonie.de 030 652111133

Diese Seite empfehlen

Hilfe & Beratungssuche