Menschenwürdiges Existenzminimum
Existenzminimum ist Menschenrecht
Das Bundesverfassungsgericht und internationale Vereinbarungen wie die UN-Sozialcharta habe das Grundrecht auf Sicherung des sozialen und kulturellen Existenzminimums wiederholt bestätigt. Es umfasst neben einer gesicherten Lebensgrundlage auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Der Bundestag entscheidet nicht darüber, ob, sondern wie das Existenzminimum für alle Menschen in der Bundesrepublik gesichert wird.
Nicht durch Sanktionen bestrafen
Die Leistungsberechtigten tragen Rechte und Pflichten. Ihre Situation kann nur durch Beratung, Förderung, Ermutigung und persönliche Betreuung und Mitgestaltung durch die Betroffenen verbessert werden. Hilfeprozesse gegen den Willen der Leistungsberechtigten können nicht zum Erfolg führen. Mit seinem Urteil vom 5. November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht die Sanktionsmöglichkeiten in der Grundsicherung deutlich beschränkt.
Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland „Die Regelsätze werden willkürlich und unsachgemäß berechnet und decken bei weitem nicht das soziokulturelle Existenzminimum”
Nachgefragt
In Deutschland gibt es viele Menschen, die in Armut leben – trotzdem ist Armut oft wenig sichtbar. Wie kommt es zu Armut und sozialer Ausgrenzung? Dazu Diakonie-Armutsexperte Michael David.
Michael David: In Deutschland steht relative Armut im Vordergrund, der mangelnde Zugang zu Teilhabemöglichkeiten, die in unserer Gesellschaft als normal gelten: etwa zu Bildung, Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung, kulturelle und sportlichen Angeboten. Diese Benachteiligungen verbinden sich mit einem geringen Einkommen. Die Betroffenen kommen nicht in der Gesellschaft vor und werden so unsichtbar.
Arbeitslosigkeit ist weiterhin das größte Armutsrisiko, aber auch die zunehmende prekäre Beschäftigung. Zwei weitere Ursachen von Armut in Deutschland: Durch das gegliederte Schulsystem werden soziale Unterschiede fast schon vererbt. Kinder aus Akademikerfamilien mit höherem Einkommen gehen meist wieder aufs Gymnasium. Zwei Drittel der unter dreijährigen Kinder, die eine Kita besuchen, kommen aus Akademikerfamilien. Wir wissen aber, dass gerade die Frühförderung für Kinder aus armen Familien sehr wichtig ist.
Zweitens: Frauen trifft Armut stärker. Die familienpolitischen Leistungen greifen bei Ehepaaren mit höchstens zwei Kindern am besten. Mehr als ein Drittel aller Alleinerziehenden braucht dagegen ergänzende Grundsicherungsleistungen. Das liegt an Problemen im Unterhalts- und Steuerrecht – aber auch daran, dass Ganztagsbetreuungsplätze fehlen. Das betrifft Mütter von mehr als zwei Kindern besonders. Die öffentlichen Betreuungsangebote sind oft nicht flexibel genug. Betreuungslücken führen zu geringfügiger Beschäftigung oder Erwerbslosigkeit und schließlich auch zu Lücken bei den Rentenbeiträgen und zu Altersarmut.
David: Armut wird als Ohnmacht erlebt. Viele Möglichkeiten der Lebensgestaltung fehlen. Der Eintritt für Kino, Theater, Fußballstadion oder Schwimmbad wird zur unüberwindlichen Hürde. Kinder können nicht erleben, was für andere selbstverständlich ist und können nicht mehr mitreden. Wer keinen Zugang zum Internet hat, erfährt von vielen Jobs nicht mehr. Wer sich für Politik interessiert, kann sich bei Treffen in der Kneipe kein Getränk leisten. Reisen und Ausflüge, ein interessantes Wohnumfeld oder ein Monatsticket für den öffentlichen Personennahverkehr sind unmöglich. Die Armut von Kindern wird durch alte Kleidung sichtbar und führt zu Hänseleien. Um Wege aus der Armut zu erleichtern, setzt sich die Diakonie dafür ein, dass kommunale Angebote verlässlich finanziert und möglichst beitragsfrei ausgestaltet werden.
Wir brauchen wieder ausreichende Förderinstrumente für die soziale Städte- und Gemeindeentwicklung und für bezahlbare Wohnungen in sozial gemischten Vierteln. Und: Die Regelsätze in der Grundsicherung müssen endlich so berechnet werden, dass sie das Existenzminimum wirklich sichern. Nach unseren Berechnungen müssten sie für Alleinstehende und Alleinerziehende bei 560 Euro liegen und damit 160 Euro höher sein, als jetzt umgesetzt wird. Für Paare müssten sie 143 Euro, für Kinder je nach Altersgruppe 18 – 80 Euro höher sein.
David: Viele Menschen, die keine Leistungen beantragen, leben in existentiellem Mangel und könnten ihre geringen Einkünfte aufstocken. Sie fürchten sich aber vor der Kontrolle durch die Jobcenter und wollen nicht ihr ganzes Leben durchleuchten lassen. Daher schränken sich noch weiter ein. Das betrifft auch viele Senioren, die Angst davor haben, dass Verwandte in Mithaftung genommen werden. Viele wissen auch gar nicht, dass sie einen Leistungsanspruch haben und trauen sich nicht, bei den Ämtern nachzufragen. Darum braucht es zunächst einmal Ermutigung.
Die Menschen müssen in ihrer Situation ernst genommen werden. Die Sozialberatungsstellen der Diakonie können helfen, Rechtsansprüche durchzusetzen – und bei der Antragstellung oder beim Gang auf die Ämter begleiten. Und schließlich muss das Sanktionsregime in der Grundsicherung beendet werden. Die Diakonie setzt sich für die Abschaffung der Sanktionen ein. Es verstößt gegen die Menschenwürde, Menschen damit zu drohen, dass sie nicht einmal mehr das Lebensnotwendige bekommen und so aus dem Leistungsbezug zu verdrängen.