Zur Theologie der Diakonie

Johann Hinrich Wicherns theologische Herausforderung

Der Wichernkenner Karl Janssen hat festgestellt, Wicherns Theologie erweise sich als „das Musterbeispiel einer Theologie, die Antwort auf die Herausforderungen des geschichtlichen Momentes zu geben sucht“. Wichern, der nicht nur mit den geistigen, theologischen und philosophischen Strömungen seiner Zeit wohlvertraut war, das heißt, Schleiermacher und Hegel ebenso gründlich zur Kenntnis genommen hat wie die Systeme der Theologen August Neander und Friedrich Lücke, war zugleich Empiriker, ein sozialwissenschaftlich orientierter Praktiker. Sein Horizont war europäisch und ökumenisch.

Seine Frömmigkeit, sein Vertrauen zu Christus und auf die Zukunft des Reiches Gottes verdankte er den Frauen und Männern der Erweckungsbewegung. Das soziale und missionarische Engagement des englischen „Awakening-Movement“ beeindruckte ihn zutiefst und löste den Impuls zu „organisierenden“ und „projektierenden“ Initiativen aus. Damit ist klar, dass sich Wichern nicht einfach einer theologischen Schule zuordnen lässt, sondern sich ein eigenes unverwechselbares theologisches Profil erarbeitet hat.

Wichern war Geschichtstheologe nicht im spekulativen Sinn, sondern in der Überzeugung, dass sich im Leben jedes Einzelnen, wie im Leben der Gemeinde und der Völker Gottes Heilsgeschichte Bahn brechen will. Individualgeschichte, Kirchengeschichte, Weltgeschichte sind Medien für das göttliche Heilsgeschehen, das allerdings immer zugleich im Ringen mit den Kräften der Sünde und des Verfalls steht. Im Mittelpunkt des Heilsgeschehens steht Christus als die alles entscheidende Rettungstat Gottes. „Diese Liebe muss in der Kirche als die helle Gottesfackel flammen, die kund macht, dass Christus eine Gestalt in seinem Volke gewonnen hat. Wie der ganze Christus im lebendigen Gottesworte sich offenbart, so muss er auch in den Gottestaten sich predigen, und die höchste, reinste, kirchlichste dieser Taten ist die rettende Liebe.“

In seiner Einleitung zum „Gutachten über die Diakonie und den Diakonat“ (1856) hat Wichern sein theologisches Programm angedeutet. Wichern versteht Diakonie nicht als eine der Theologie äußerliche Aktion, sondern als ihr Herzstück. Diakonie erschließt einen universalen Horizont, der jegliche konfessionelle oder nationale Grenzen überschreitet. Zugleich wird eine Intensivierung des Auftrages der Christenheit eingeleitet, die in die Tiefendimension menschlichen Lebens, seiner Nöte und der gebotenen Hilfe hineinführt. Dass die Praxis dies nicht ohne die engste Verbindung mit der Theologie als Wissenschaft leisten kann, war Wichern klar.

Theologische Ansätze der „zweiten Generation“

Das Hauptergebnis der Wichernzeit bestand in der Ausbreitung der inneren Mission. Allerdings blieb davon die Universitätstheologie weitgehend unberührt. Die wichtigsten Impulse für eine theologische Ortsbestimmung kamen aus dem Bereich der Inneren Mission selbst. Es entstand jene Form einer „Theologie der Praxis“, die dazu beitrug, den engagierten Laien und Berufsarbeiter/innen die Wurzeln ihrer Tätigkeit bewusst zu machen. Ein Beispiel für die Aufnahme der theologischen Impulse Wicherns ist die Initiative Friedrich von Bodelschwinghs d. Ä. zur Gründung der Theologischen Schule in Bethel bei Bielefeld. Bodelschwingh wandte sich gegen Tendenzen der liberalen Theologie, die seiner Meinung nach Theologen keine wirkliche Hilfe in den Herausforderungen des praktisch-diakonischen Gemeindedienstes biete.

In der geplanten Theologischen Schule sollte es nicht um „tote Formeln“ gehen, sondern auf „innerlich erfahrenes und praktisches Christentum“ ankommen. Die schließlich 1905 eröffnete Theologische Schule bildete einen weiteren Arbeitszweig der Betheler Anstalten. Sowohl von den Lehrern als auch den Studenten wurde gemeinsames Bibelstudium sowie die Mitarbeit in der seelsorgerlichen bzw. pflegerischen Betreuung der behinderten Menschen Bethels erwartet. Mit der Initiative Bodelschwinghs wurde ein Grundanliegen Wicherns eingelöst: Die Lehrenden und die Studierenden der Theologischen Schule sahen es als ihre Aufgabe an, die Tiefen der Nöte der Menschen zu verstehen und zugleich etwas von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes im Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Prägung und gesundheitlicher Verfassung selbst zu erfahren und weiterzugeben.

Die Gefahr der Inneren Mission in der Zeit um die Jahrhundertwende bestand darin, dass sich die einzelnen Kräfte verselbstständigten: auf der einen Seite nahm die Anstalts- und die Vereinsdiakonie überall im Land einen kräftigen Aufschwung. Das Problem der Integration im Leben der Gemeinden blieb aber teilweise ungelöst. Damit aber ist der Grundgedanke, nämlich die diakonische Erneuerung des kirchlichen Gemeindelebens, zurückgetreten. Es war deshalb die Aufgabe der Praktischen Theologie, Schritte zur praktischen Interpretation und Integration von Gemeinde und Diakonie vorzuzeichnen. Bemühungen dieser Art gingen u.a. von Emil Sulze aus. Sulzes Gemeindeverständnis weist einerseits einen Zusammenhang mit Wicherns Anliegen auf, die Liebe als Wesensmerkmal der christlichen Gemeinde zu begreifen und in einer entsprechenden Praxis zur Geltung zu bringen. Andererseits werden Einflüsse des theologischen Liberalismus sichtbar insbesondere von den Theologen Richard Rothe und Albrecht Ritschl. Gemeinde erscheint bei Sulze „als Ort wechselseitiger Hilfe und Erziehung in der Perspektive sittlichen Lebens“ ausgerichtet auf das Reich Gottes.

Die Praktische Theologie wurde von nun an die Disziplin, die sich der Arbeit und dem Auftrag der Inneren Mission am engsten verbunden wusste, ohne freilich die Entfremdung von Theologie und Diakonie wirklich aufhalten zu können.

Theologie und Diakonie im Zeichen der Dialektischen Theologie Karl Barths

Häufig wird die These vertreten, dass die Arbeit der Inneren Mission durch den Aufbruch der Dialektischen Theologie gleichsam „systematisch“ ins Abseits gestellt worden sei. Die Antwort auf die Herausforderung der Dialektischen Theologie, die aus den Kreisen der Inneren Mission kam, stützt diese These nur bedingt. Vielmehr wurde mit großem Ernst und genauer Kenntnis der Thesen Karl Barths die Frage nach der Bedeutung dieser Theologie für die Innere Mission gestellt und beantwortet.

Der berühmte Tambacher Vortrag Barths „Der Christ in der Gesellschaft“ (1919) löste in den Kreisen der Inneren Mission heftige Diskussionen aus. Mit einer kühnen, seine ganze Theologie vorwegnehmenden Wendung interpretierte Barth das Thema auf seine Weise: „Der Christ – wir sind wohl einig darin, dass damit nicht die Christen gemeint sein können: weder die Masse der Getauften, noch etwa das erwählte Häuflein der Religiös-Sozialen, noch auch die feinste Auslese der edelsten frömmsten Christen, an die wir sonst denken mögen. Der Christ ist der Christus.“ Das Revolutionäre an dieser These bestand darin, dass Barth gegen alle Versuche einer äußerlichen Scheidung zwischen Verlorenen und Geretteten die Erkenntnis von der Verlorenheit allen menschlichen Tuns setzte. „Denn es ist eine Verheißung, die über allen steht, ein Kreuz, das für die ganze Welt aufgerichtet ist, eine Vergebung, aus der alle das Leben haben. Die Gemeinde Christi ist ein Haus, das nach allen Seiten offen ist; denn Christus ist immer auch für die andren, für die, die draußen sind, gestorben.“ Barth lehnt alle Versuche in Theologie und christlicher Existenz ab, die Frömmigkeit und Religion als Steigerung menschlicher Möglichkeiten verstehen. Verdächtig waren ihm Historismus und Psychologismus, Kulturprotestantismus und „der Liebesprotestantismus der Inneren Mission“.

Im Jahre 1928 meldete sich der damalige Pastor der Inneren Mission Hanns Lilje aus Berlin-Friedenau zu Wort und würdigte den Einfluss der Theologie Karl Barths auf die Innere Mission. Er begrüßte zunächst den Bußruf Barths und auch die „Korrektur der berühmten Wichernschen Formel von der Arbeit des heilserfüllten am heillosen Volke“, kommt aber gleichwohl zu dem Ergebnis, dass Barths Gedankengänge „letztlich als Ablehnung der Inneren Mission“ empfunden werden müssen. Lilje setzt sich mit den bis dahin publizierten Arbeiten Barths auseinander, um dann festzustellen, in Barths Theologie werde „weder die Begründung noch der Antrieb des christlichen Handelns“ deutlich.

In derselben Zeitschrift, die den Beitrag Liljes veröffentlicht hatte, erschien eine Erwiderung von Pfarrer Bodenstein aus Dresden, der mit Barth unter allen Umständen den Anschein vermeiden will, „als könne zwischen Gebenden und Nehmenden unterschieden werden. Wir sind nach dem bekannten Wort Luthers alle ‚nur Bettler‘. Die Wohltätigkeit, auch die, die der Seele helfen will, also die Innere Mission, steht stets in der Gefahr, eine Kluft aufzureißen, bei der auf der einen Seite die beati possidentes, die Besitzenden, stehen, die den anderen, den Armen, aus ihrer Fülle gnädig etwas abgeben. … Wir bilden eine Sündergemeinschaft und schon darum eine Gemeinschaft der Bedrängten und Bedrückten. Der Brüder Not ist meine Not, der Brüder Schuld ist meine Schuld. Aus sozialer Not und aus sozialer Schuld heraus muss der Protestschrei klagend und anklagend zu Gott und Menschen dringen. Ob nicht die alten, aber leider zu sehr in den Hintergrund getretenen Gedanken Wicherns über die Organisation der Hilfsbedürftigen durch solche Einsicht eine Neubelebung erfahren könnten?“

Barth blieb bei seinen frühen Aussagen nicht stehen, sondern entfaltete insbesondere in seiner groß angelegten Versöhnungslehre auch eine Theologie der Diakonie, die geeignet war, die atmosphärischen Irritationen der frühen Zeit zu überwinden. Schon in seiner Ethikvorlesung von 1928/29 charakterisierte er Kirche und Staat als „Lebensordnung(en) der Versöhnung“ . Das Verhalten der Kirche gegenüber dem Staat ist für Barth jetzt davon abhängig, inwiefern dieser das ihm aufgetragene Werk der „Gemeinschaftsbildung unter den Menschen durch die Aufrichtung des Zeichens des … Rechtes und der … Erziehung“ auch erfüllt. Die Kirche wird „zum Protest gegen den Staat übergehen, wenn sein Handeln geradezu zu einer Verleugnung seines Sinnes werden, wenn er als Ordnung Gottes nicht mehr offenbar und glaubwürdig sein sollte.“ Hier wurden bereits die Weichen gestellt, die Barths Protest gegen die Perversion des Staates durch den Nationalsozialismus begründen. In diesem Sinne verpflichtet auch das Barmer Bekenntnis von 1934 die Kirche, den Staat zur Erfüllung seines Auftrages zu mahnen, zugleich wird der Kirche verwehrt, selbst staatliche Macht und Würde an sich zu ziehen.

Zur theologischen Ortsbestimmung der Diakonie seit dem Zweiten Weltkrieg

Trotz der Wirkungen der Theologie Karl Barths ist nicht zu leugnen, dass die Diakonie in der Zeit vor und während des Nationalsozialismus zu wenig Rückhalt in der Universitätstheologie gefunden hat und schon aus diesem Grund ungenügend zugerüstet war für die Auseinandersetzung mit dem von der sozialdarwinistischen Weltanschauung geprägten Nationalsozialismus. Dass sie sich gleichwohl nach anfänglichen Fehleinschätzungen in ihren wichtigsten Vertretern wieder auf den geistlichen Auftrag der Kirche und ihrer Verbände besonnen hat und auch zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Gleichschaltung befähigt war, verdankt sie nicht zuletzt den Einflüssen, die von Barths konsequenter Rückbesinnung auf die Glaubensgrundlagen ausgegangen waren. Mit der Gründung der „Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Verbände“ 1934 unter wesentlicher Initiative von Pastor Fritz von Bodelschwingh begann, wie man es formulierte, ein Ringen, „dass wir den missionarischen und diakonischen Auftrag an unserem Volke in der Völkerwelt inmitten des Kirchenstreites im Geiste unseres Herrn mit ganzer Hingabe zum Segen für Kirche und Volk fortsetzen können.“

Es war zwingend geboten, die Erfahrungen des Nationalsozialismus theologisch aufzuarbeiten und zu einer Neubesinnung der diakonischen Arbeit zu gelangen. Die theologischen Debatten der Nachkriegszeit waren zunächst geprägt von der Frage, welches Leitbild die biblische Überlieferung vorgezeichnet hat. Das Stichwort der „christozentrischen Diakonie“ konnte dabei von Vertretern ganz unterschiedlicher Vorstellungen in Anspruch genommen werden. Paul Philippi z.B. konzentrierte alles Nachdenken über Diakonie auf den innergemeindlichen Lebensprozess, der seinen Mittelpunkt in der Mahlfeier findet. „Wer von der Diakonie recht reden will, muss von der rechten Gemeinde reden.“ Diakonie realisiert mithin die soziale Leiblichkeit des Leibes Christi, in dem das schwächste Glied die größte Ehre gebietet. Konsequent wird auch die Frage nach dem Diakonat ausschließlich an das innergemeindiche Diakonenamt gebunden. Die Einbeziehung der Diakonie in die Theologie des Amtes ist Ausfluss einer Verhältnisbestimmung, der gemäß sich Diakonie zur Liebestätigkeit des Einzelnen verhält wie das Amt zum allgemeinen Priestertum der Gläubigen. Das Leitbild der „Diakonie-Gemeinde“ wird hier konsequent vorgetragen. Es stand aber faktisch in Spannung zur realen Verwirklichung der Diakonie nach 1945. Diese etablierte sich immer stärker als selbstständiger Wohlfahrtsverband auf der rechtlichen Basis als Verein (seit 1975) und erfuhr eine organisatorische Entfaltung und professionelle Ausgestaltung.

Auf anderen theologischen Voraussetzungen beruhte der Ansatz Heinz-Dietrich Wendlands, der die „Diakonie zwischen Kirche und Welt“ reflektierte. Das Vorstellungspaar „Christos diakonos“ und „Christos doulos“ prägte Wendlands Perspektive. „Es geht in der Diakonie um die ungeheure ‚Spannung‘ von diakonischer Präsenz Christi in seinen Knechten, seiner Gemeinde (und in den diakonischen Charismen) auf der einen Seite, und der verborgenen Präsenz desselben Christus als des in den Tiefen des Weltelends und des Weltleidens in eigener Person verborgen anwesenden und anzutreffenden Herrn der Welt.“ Diakonie habe sich im Leben der Gemeinde und zugleich in den Nöten der Welt, bei dem in den Geringsten verborgen wirkenden gegenwärtigen Christus zu bewähren. Dieses Verständnis zeichnete nicht nur die schon von Wichern postulierte ökumenische Weite der Diakonie vor, sondern eröffnete das Aufgabenfeld der Diakonie in einer „verantwortlichen Gesellschaft“, in der „soziale Diakonie“, „personale Diakonie“ und „politische Diakonie“ über die weiterhin selbstverständlich vorausgesetzte „Gemeinde-Diakonie“ hinaus zur Entfaltung zu bringen war.

Eine zuversichtliche Perspektive

Ohne Zweifel ist die Diakonie heute das Feld, in dem die Kirche am stärksten im Kontakt und in Auseinandersetzung sowohl mit den sozialen und politischen Entwicklungen als auch mit den Tendenzen der Human- und Sozialwissenschaften steht. Heinz Eduard Tödt hat einmal darauf hingewiesen, dass ein „tiefer Dissens“ bestehe „zwischen der Universitätstheologie und der faktischen Aktivität der Kirche in der Gesellschaft“. Deshalb sei die Diakonie häufig genötigt, ihre interdisziplinäre Arbeit auf dem Niveau der praktischen Anwendung zu vollziehen und ohne methodische Klärung, wie eine multidisziplinäre Kooperation theoretisch zu verantworten ist.

Autor: Theodor Strohm

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