Krankenhauswesen

Vom Siechenhaus zur Heilanstalt

Man muss sich nicht erst die Begriffsgeschichte der Bezeichnung „Schwester“ vergegenwärtigen, um die fundamentale Bedeutung der weiblichen Diakonie für die moderne Krankenpflege zu erfassen. Die Krankenpflege und damit das moderne Krankenhauswesen sind ohne die Grundlagen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelegt wurden, gar nicht zu denken. Schwesternanrede wie -tracht, ursprünglich Zeichen christlicher Gesinnungsgemeinschaft, dienten zunächst ganz praktisch der Überwindung der im 19. Jahrhundert noch stark ausgeprägten Standesunterschiede und gewährten den unverheirateten Frauen Schutz. Vor allem aber weckten sie im Krankenhaus das Vertrauen der Kranken und verhalfen gleichzeitig zur nötigen Distanz. Im Laufe der Zeit wurden sie nicht nur zum Gütezeichen für eine von der Gesellschaft respektierte außerhäusliche Tätigkeit von Frauen, sondern geradezu zum Inbegriff der Krankenpflegerin.

Als die Krankenpflege zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine noch in erster Linie private, innerhäusliche Angelegenheit war, besaßen die bestehenden Hospitäler eher den Charakter von Armenversorgungs- und Siechenhäusern, deren Insassen von den „Barmherzigen Schwestern“ versorgt wurden, die nach dem Vorbild katholischer Krankenpflegeorden in den von Napoleon besetzten Gebieten entstanden waren. Davon sonderten sich allmählich die eigentlichen Krankenhäuser ab, die oftmals den Namen Heilanstalt annahmen. Neue Entwicklungen in der Medizin wie Asepsis, Narkose oder der Einsatz schmerzstillender Mittel erlaubten größere operative Eingriffe, so dass in den Krankenhäusern die Heilung auf der Grundlage ärztlicher Behandlungsmethoden und sachgemäßer pflegerischer Maßnahmen im Vordergrund stand.

Das Urbild der Krankenschwester

An diesem Punkt setzte das ideelle Konzept Theodor Fliedners an, der 1822 auf einer Kollektenreise in den Niederlanden Frauen in der Krankenpflege gesehen hatte. 1836 gründete er zusammen mit seiner Frau Friederike in Kaiserswerth ein Krankenhaus und begann in diesem ersten Diakonissen-Mutterhaus mit der Ausbildung von Pflegerinnen. Angesichts des sprunghaft einsetzenden Fortschritts der neuzeitlichen Medizin und der in gleichem Maße gestiegenen Anforderungen an die begleitende Pflege stellte Fliedner die Forderung, dass diese schulmäßig in Theorie und Praxis gelernt und eingeübt werden müsse. Die Diakonissen füllten diese Leerstelle aus und etablierten in kurzer Zeit die Krankenpflege als eigenständiges Berufsbild, wobei die überwiegende Betätigung der Diakonissen in diesem Arbeitsfeld und das hohe Berufsethos ihren Teil dazu beitrugen, das äußere Erscheinungsbild der „Krankenschwester“ dauerhaft zu prägen.

Dass dieser Beruf sich in der Organisationsform der schwesterlichen Genossenschaft entwickelte, lag einerseits in der gesellschaftlichen Stellung der Frau, andererseits in der spezifischen Situation des Krankenhausbetriebs begründet, der wegen der hohen beruflichen Anforderungen einen besonderen Schutz erforderlich machte. So wurden die Diakonissen von den Mutterhäusern aus in verschiedene Einrichtungen verschickt, wobei so genannte Gestellungsverträge das Arbeitsverhältnis regelten. Die Schwestern waren somit nicht Angestellte der Krankenhäuser, sondern arbeiteten im Auftrag ihrer Mutterhäuser, wohin sie auch im Alter zurückkehrten.

Professionalisierung und Spezialisierung

Die Vorteile dieses Modells im Unterschied zur früheren Krankenpflegetätigkeit zeigten sich bald. Durch gute Arbeitsleistung und einwandfreie Lebensführung sowie nicht zuletzt dank der guten Krankenpflegeausbildung waren die Diakonissen gut organisiert. Sie übernahmen nicht nur oft zusätzlich Arbeiten in Küche, Waschküche und Einkauf, sondern zeichneten sich vor allem durch die Fähigkeit zu geordneter und sparsamer Wirtschaftsführung aus. Auf diesem Wege gerieten der wirtschaftliche Betrieb und die Verwaltung ganzer Häuser in die Obhut der Diakonissen-Mutterhäuser, was die zunehmende Professionalisierung des Heilanstaltsbetriebs zur Folge hatte.

Auf die Herausforderungen der Moderne reagierten die evangelischen Krankenhäuser sukzessive mit Spezialisierung. Die zahlreich entstehenden Fachkliniken trugen dem Umstand Rechnung, dass die Fähigkeiten der Mediziner immer differenzierter geworden waren, sich mit den möglichen Ursachen eines immer breiteren Spektrums an Krankheiten kurativ oder palliativ zu befassen. Rehabilitations-Einrichtungen, Heilstätten der Suchtkrankenhilfe oder hoch spezialisierte Anstalten wie etwa die namhaften Epilepsiezentren entstanden ebenso wie beispielsweise psychiatrische, neurologische und psychosomatische Fachkliniken in evangelischer Trägerschaft.

Um die Jahrhundertwende rückte auch das soziale Umfeld der Patienten ins Blickfeld der Krankenpflege, so dass allmählich Fragen der sozialen Fürsorge Teil der krankenpflegerischen Versorgung wurden. Bereits das bahnbrechende Krankenversicherungsgesetz von 1883 hatte den Grundstein dafür gelegt, dass nicht länger allein die Krankheit als behandlungswürdig angesehen wurde, sondern der Kranke als gewissermaßen ganzheitliche Persönlichkeit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Gestaltung der alltäglichen Lebensumstände ehemals Kranker eine nicht unerhebliche Bedeutung für die Nachhaltigkeit des Gesundungsprozesses zukäme und mithin der Rückkehr aus dem Krankenhaus in die Familie, in die eigene Wohnung, in das soziale Umfeld, kurz: den privaten Lebensumständen stärkere Beachtung zu schenken sei.

Herausforderungen der Moderne

In den städtischen Krankenhäusern ergänzte ab dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die neu entstehende Schwesternschaft des Zehlendorfer Diakonievereins die Arbeit der Diakonissen. Deren Gründer Friedrich Zimmer gelang es, Frauen der gehobenen Bürgerschichten für sein Seminar zu gewinnen, das erstmals 1894 in Elberfeld eröffnete. Im Unterschied zu den bisherigen Diakonissenanstalten verpflichteten sich die Frauen nicht auf Lebenszeit, sondern absolvierten gewissermaßen ein „Freiwilligenjahr in der Krankenpflege“. Dieses Modell war nicht allein dank der Tatsache ein voller Erfolg, dass die Idee der freien beruflichen Tätigkeit von Frauen aus dem Kontakt mit der Frauenbewegung heraus entstanden war, sondern auch weil erstmals der Grundsatz der Selbstverwaltung praktiziert wurde.

Insgesamt fand das evangelische Krankenhauswesen allgemein hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Bekämpfung der Infektionsgefahr sowie die konsequent durchgeführten Hygienemaßnahmen beseitigten nicht nur das als „Hospitalbrand“ gefürchtete Wundfieber, das bis dahin die Wirkungsmacht der neuen Mittel und Methoden ausgebremst hatte, sondern nahmen der Bevölkerung auch die Furcht vor dem Krankenhaus als Sterbehaus der Armen. Darüber hinaus trugen die Sauberkeit der Häuser, die durchgängig weiß gehaltene Ausstattung, die Verwendung von Metallbetten in kleineren Stationszimmern sowie die Bauweise neuer Hospitäler im Pavillonstil zum guten Ruf der Einrichtungen bei, so dass inzwischen selbst die wohlhabendere Bevölkerung sich zur Behandlung ins Krankenhaus bringen ließ.

Auf der anderen Seite bewegten sich gerade die evangelischen Krankenhäuser zu Beginn des 20. Jahrhundert in einem nicht konfliktfreien Spannungsfeld, das im Wesentlichen durch vier Pole gekennzeichnet war. Zum einen mussten sie bei sich verschärfenden Säkularisierungstendenzen ihr diakonisches Selbstverständnis behaupten, zum zweiten dem durch die immer größeren Fortschritte der Medizin verursachten, fortwährenden Strukturwandel im Krankenhauswesen begegnen, wie er beispielsweise in der Tuberkulosefürsorge sichtbar wurde. Zum dritten hatten sie sich den wirtschaftlichen Zwängen, zum vierten den jeweiligen politischen Vorgaben zu stellen, was sich unter den wechselnden Vorzeichen des entstehenden und sich fortentwickelnden modernen Sozialstaats vollzog.

Krankenhäuser in der Krise

Zu Beginn der 20er Jahre befanden sich die evangelischen Krankenhäuser in einer durch vielerlei Faktoren ausgelösten Krise. Wegen der Folgen des Ersten Weltkriegs und der Inflation von 1922/23, wegen der Überlastung aufgrund des schlechten Gesundheitszustands der Bevölkerung, wegen der Herausforderungen durch den im Entstehen begriffenen Wohlfahrtsstaat sowie schließlich wegen des politischen Klimas in der frühen Weimarer Republik, das für Träger der freien Wohlfahrtspflege keineswegs günstig war, sahen sich die freigemeinnützigen Krankenhausträger veranlasst, einen Dachverband zur Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen zu gründen.

Wollten die evangelischen Krankenhäuser dabei ihre besonderen Interessen wahren und in Abgrenzung zu den anderen Krankenhausträgern ihr diakonisches Profil schärfen, so mussten sie sich zu einem Verband zusammenschließen, wie es auf katholischer Seite schon vor dem Ersten Weltkrieg geschehen war. Schließlich ging es den Initiatoren des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes zum einen darum, eine Lücke in der Organisationsstruktur der Inneren Mission zu schließen, zum anderen den evangelischen Krankenhäusern im Konzert der Krankenhausträger eine lautere Stimme zu geben. Nicht zuletzt sollte die Professionalität der evangelischen Krankenhäuser gehoben werden.

Unter den Rahmenbedingungen des NS-Staates formierten sich starke Kräfte gegen die konfessionellen Krankenhausträger. Die evangelischen Krankenhäuser standen nicht nur vor der Herausforderung, ihren diakonischen Charakter zu behaupten, sondern sich auch Fragen der Rassenpolitik, der Eugenik, der Sterilisation, der Euthanasie und letztlich des vielfachen Mordes an jüdischen Mitbürgern im Namen der Wissenschaft und der Medizin zu stellen. Die Kriegs- und Nachkriegszeit brachten nicht nur den evangelischen Krankenhäusern enorme menschliche und materielle Verluste. 80 Prozent aller deutschen Krankenhäuser waren 1945 zerstört oder beschädigt, so dass in beiden Teilen Deutschlands der Wiederaufbau nur mühsam begann.

Christlicher Charakter, diakonisches Profil

Infolge des zahlenmäßigen Rückgangs der Diakonissen in den 1960er und 1970er Jahren sahen sich die evangelischen Krankenhäuser mit teilweise akuten Nachwuchssorgen beim Pflegepersonal konfrontiert, dem sie durch eine konfessionelle Öffnung sowie durch eine Imagekampagne zur Schwesternwerbung zu begegnen versuchten. Diese betonte ihrerseits gerade den christlichen Charakter der Einrichtungen, zum einen um die diakonische Dienstgemeinschaft nicht zu gefährden, zum anderen aber um in Zeiten fortschreitender Technisierung der Medizin, in denen auf Langzeitpflege weniger Wert gelegt wird, die Krankenpflege als ureigene diakonische Aufgabe zu behaupten.

1994 gehörten zur Diakonie 353 Krankenhäuser, in denen insgesamt 70.420 Betten angeboten wurden. Die Bettenzahl in den Allgemeinen Krankenhäusern war zwischen 1970 und 1990 leicht zurückgegangen, während sie sich im gleichen Zeitraum im Bereich der klinischen Psychiatrie, der Neurologie sowie der Psychosomatik verdreifachte und sich im Bereich der Facheinrichtungen für Suchtkrankheiten verdoppelte. Es zeigte sich - so ein Fazit anlässlich des 150jährigen Bestehens der Inneren Mission im Jahre 1998 - „ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlich bedingten Entwicklungen und der diakonischen Antwort auf ‚Armut’.“

An der Schwelle zum neuen Jahrtausend mussten sich die evangelischen Krankenhäuser zunehmend der Situation stellen, bei gleichzeitiger Professionalisierung und Ökonomisierung ihr spezifisch diakonisches Profil aufrecht zu erhalten. Vor diesem Hintergrund kommt dem evangelischen Krankenhauswesen hinsichtlich der Bedeutung, die einzelne diakonische Arbeitsfelder innerhalb der Entwicklung des Sozialwesens haben, eine herausragende Rolle zu, denn - wie es in der Festschrift anlässlich des 75jährigen Bestehens des DEKV heißt - „als wichtiger Baustein des modernen Sozialstaats kann das evangelische Krankenhaus als spezifisch protestantischer Beitrag zum Projekt der Moderne gedeutet werden“.

Literatur:

Liselotte Katscher, Die Krankenpflege, in: Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848-1998, Berlin 1998, S. 152-161.

Hans-Walter Schmuhl, Evangelische Krankenhäuser und die Herausforderung der Moderne. 75 Jahre Deutsche Evangelischer Krankenhausverband (1926-2001), Leipzig 2002

Anna Sticker, Die Entstehung der neuzeitlichen Krankenpflege. Deutsche Quellenstücke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1960.

Autor: Thomas Schneider

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