SORGENDE GEMEINSCHAFTEN IM KOALITIONSVERTRAG:
Pläne, Potenziale und offene Fragen
Dr. Jutta Ataie | 07.05.2025
Gestern wurde der neue Bundeskanzler gewählt. Ein guter Moment, um einen Blick auf politische Versprechen zu werfen, die in der neuen Legislatur eingelöst werden müssen. Mit dem Versprechen aus dem Koalitionsvertrag für die 21. Legislaturperiode, das Hospiz- und Palliativgesetz „im Sinne der sorgenden Gemeinschaften“ weiterzuentwickeln, ein Gesetz zur Suizidprävention auf den Weg zu bringen und die Einsamkeitsstrategie fortzuschreiben, setzt die Bundesregierung ein klares Zeichen: Sterben, Tod und Trauer sind keine private Randthemen – sondern gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die Gesundheit, Solidarität und Mitverantwortung verbinden.
Doch wie wird aus dieser politischen Zielmarke konkrete Wirklichkeit?
Sorge am Lebensende gestalten – gesetzlich und im Alltag
Der programmatische Satz der Bundesregierung – „Wir entwickeln das Hospiz- und Palliativgesetz im Sinne der sorgenden Gemeinschaften weiter“ – eröffnet einen wichtigen Gestaltungsraum. Unsere Aufgabe ist es nun, diesen Raum mit konkreten Inhalten zu füllen – fachlich fundiert, zivilgesellschaftlich getragen und gesetzlich verankert.
Es braucht mutige gesetzgeberische Schritte: Strukturen müssen gestärkt, Lücken geschlossen und Menschen in ihrer letzten Lebensphase frühzeitig unterstützt werden – medizinisch, psychosozial und auch im Gemeinwesen.
Dazu zählt:
- gesundheitliche Vorausplanung für alle Menschen – unabhängig von Wohnort, Gesundheitszustand oder Unterstützungsbedarf
- psychosoziale Begleitung als fester Bestandteil der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung
- mehr Palliativkompetenz in Pflegeeinrichtungen – ohne zusätzliche Kosten für Bewohner:innen
Eine sorgende Gemeinschaft lebt nicht allein von Gesetzen. Sie braucht eine Haltung. Eine Kultur, die im Alltag spürbar wird – durch Bildung, durch lokale Netzwerke, durch Engagement.
Eine bundesweite Informationskampagne, die über hospizlich-palliative Angebote informiert, kann dabei helfen, Ängste abzubauen und das Bild vom Sterben in der Gesellschaft zu verändern. Nur so entsteht ein tragfähiges Fundament für sorgende Gemeinschaften – und ein wichtiger Beitrag zur Suizidprävention.
Suizidprävention braucht klare Strukturen
„Wir (…) setzen das Suizidpräventionsgesetz um“ – dieser Satz im Koalitionsvertrag markiert einen längst überfälligen politischen Schritt. Jetzt gilt es, ihn mit Leben zu füllen: durch konkrete Maßnahmen, klare Zuständigkeiten und verlässliche Strukturen.
Suizidprävention beginnt nicht erst in der Krise. Sie braucht Räume, in denen über existenzielle Not, Hoffnung und Lebenssinn gesprochen werden kann – mitten in der Gesellschaft.
Der in der 20. Legislaturperiode vorgelegte Gesetzentwurf sieht als verbindliche Regelung den Aufbau einer Bundesfachstelle vor – ein wichtiger erster Schritt, der jedoch nicht ausreicht, um Suizidprävention nachhaltig zu verankern und flächendeckend umzusetzen.
Es braucht insbesondere:
- einen bundesgesetzlichen Rahmen, der die Länder zur Umsetzung konkreter Maßnahmen verpflichtet. Dazu gehören Krisendienste in jedem Bundesland, bei Bedarf aufsuchend,
- zentrale Zugänge mit dem geregelten Ziel einer lückenlosen suizidpräventiven Versorgung – etwa über eine bundesweit einheitliche Telefonnummer sowie ergänzend über Web oder App, je nach Lebensrealität,
- eine verbindliche Beteiligung der gesetzlichen Krankenkassen und ihrer Leistungserbringer,
- eine tragfähige Finanzierung und die strukturelle Stärkung gemeinnütziger und ehrenamtlicher Akteure.
Schutz und Selbstbestimmung in Balance bringen
Zur gesetzlichen Regelung der Suizidassistenz enthält der Koalitionsvertrag keine konkreten Aussagen – dabei ist gerade hier ein klarer Rahmen dringend notwendig. Denn es geht um nicht weniger als die Balance zwischen Schutz und Selbstbestimmung.
Diese Balance zu wahren, heißt: Menschen in ihrer existenziellen Not ernst zu nehmen – ohne vorschnelle Entscheidungen zu begünstigen.
Ein wirksames Schutzkonzept sollte folgendes sicherstellen:
- eine verpflichtende, ergebnisoffene psychosoziale Beratung vor jeder ärztlichen Begutachtung
- echte Gesprächsräume über Alternativen, Perspektiven und Unterstützung
- Ausnahmeregelungen nur für schwerstkranke und sterbende Menschen, bei denen solche Beratungsprozesse nicht zumutbar sind
Einsamkeit ernst nehmen – und vernetzt begegnen
Mit der Ankündigung „Einsamkeit, ihre Auswirkungen und den Umgang damit, rücken wir in den Fokus“ benennt die Bundesregierung ein Thema, das als Querschnittsaufgabe wirkt – in der Suizidprävention, der hospizlich-palliativen Begleitung, in der Altenhilfe und der psychosozialen Versorgung.
Unsere Aufgabe ist es nun, diesen Fokus mitzugestalten: durch fachliche Perspektiven, durch Impulse aus der Praxis und durch Strukturen, die Einsamkeit nicht nur erkennen, sondern ihr konkret begegnen – niedrigschwellig, beziehungsorientiert und in kommunaler Nähe.
Dazu braucht es:
- die dauerhafte Verankerung der Einsamkeitsstrategie auf Bundesebene, mit ressortübergreifendem Ansatz,
- die gezielte Förderung kommunaler Begegnungs- und Teilhabeangebote,
- die strukturelle und finanzielle Unterstützung ehrenamtlicher Begleitung – als tragende Säule gegen soziale Isolation
Fazit
Die im Koalitionsvertrag verankerten Vorhaben machen deutlich: Es geht um mehr als Einzelmaßnahmen. Es geht um eine neue Kultur des Miteinanders – im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer, mit Einsamkeit, Suizidalität und existenzieller Not.
Gesetzgeberisches Handeln kann hier wichtige Voraussetzungen schaffen. Doch echte Veränderung entsteht erst dann, wenn Politik, Zivilgesellschaft und Fachpraxis gemeinsam Verantwortung übernehmen – für ein Leben in Beziehung, in Würde und in Mitverantwortung: immer und bis zuletzt.