Tina Mäueler-Görke, Mitglied der Geschäftsführung Oberlin Lebenswelten und BeB-Vorstandsmitglied
© Johannsen/Oberlinhaus
BeB-Aktionswoche: #OhneFachkräfteKeineTeilhabe

Interview mit Tina Mäueler-Görke von den Oberlin Lebenswelten und BeB-Vorstandsmitglied

24.04.2024

#OhneFachkräfteKeineTeilhabe ist ein starker Appell für Veränderung in der Aktionswoche des Bundesverbands evangelische Behindertenhilfe (BeB) vom 22. bis 28. April 2024. Welche Lösungsansätze es gibt, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und somit die Teilhabechancen für Menschen mit Behinderung zu verbessern, erläutert Tina Mäueler-Görke, Mitglied der Geschäftsführung Oberlin Lebenswelten und BeB-Vorstandsmitglied im Interview.

Die Ergebnisse der BeB-Umfrage von 2023 zeichnen ein bundesweit besorgniserregendes Bild des Fachkräftemangels in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung: Stellen bleiben länger als sechs Monate unbesetzt. Wie wirkt sich das auf die Qualität der Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderung aus?
Tina Mäueler-Görke: Die Umfrage zeigt, dass Träger wie wir ernsthaft Gefahr laufen, ihre Leistungen nicht mehr in vollem Umfang anbieten zu können, obwohl der Bedarf sehr groß ist und Menschen mit Behinderung unversorgt bleiben, obwohl sie durch das Bundesteilhabegesetz einen Rechtsanspruch auf Teilhabe haben. Wenn wir als Träger aber nicht in der Lage sind, die Assistenzleistung dahinter zu gestalten, weil die Menschen, die das machen und die auch das Wissen darüber haben, nicht mehr da sind, dann ist das eine Menschenrechtsverletzung. Jeder soll selbst entscheiden können, wann er duscht oder wann und was er essen und einkaufen möchte. Das ist das verbriefte Recht, sonst ist es eine Einschränkung der Persönlichkeitsrechte. Wenn wir zu wenig Personal haben, können wir nur die Grundversorgung leisten. Ein Kind mit Behinderung hat ein Recht auf Frühförderung. Wir arbeiten im Auftrag der Kommune und wollen diese Pflichtaufgabe, die dem Kind menschenrechtlich zusteht, erfüllen, können es aber nicht, wenn keine Fachkraft mehr da ist. 

Der Beruf des Heilerziehungspflegers ist unverzichtbar, um Inklusion und Unterstützung im Alltag von Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Wie könnte das Berufsbild bekannter gemacht werden?
Mäueler-Görke:
Der Beruf des Heilerziehungspflegers muss aus der Nische geholt und deutlich attraktiver und zeitgemäßer gestaltet werden. Die Einstiegsvoraussetzungen sind zu hoch. Niedersachsen und Hessen haben als erste Bundesländer das Schulgeld als Hürde bereits abgeschafft. Derzeit müssen Realschulabsolventen erst eine zweijährige Einstiegsqualifizierung zum Sozialassistenten absolvieren und haben am Ende eine fünfjährige Ausbildung hinter sich - ohne Gehalt. Das ist auch eine wirtschaftliche Frage. Wenn man Abitur hat, will man dann drei Jahre eine Ausbildung machen, für die man Geld bezahlen muss, wenn man auch einen Studienabschluss beispielsweise in Soziale Arbeit erzielen kann? Viele Ausbildungsträger gehen dazu über, die Leute in Vollzeit einzustellen und sie für die Ausbildung freizustellen und das Schulgeld zu übernehmen. Bei uns sind es dann zwei Tage, die sie in der Schule sind und wir bezahlen sie dafür. Das sind Kosten, die nicht refinanziert werden. Wenn ich ein kleiner Träger bin oder ambulant arbeite, kann ich mir das nicht leisten. Hier muss es einheitliche Regelungen und Refinanzierungen geben.

Im Kampf gegen den Fachkräftemangel ist effektives Recruiting entscheidend. Welche Maßnahmen könnten die Personalgewinnung effektiver gestalten?
Mäueler-Görke:
Alle Träger setzen auf kommunale Werbung für Recruiting und Marketing. Das muss aber auch refinanziert sein. Es reicht nicht, eine Stellenanzeige zu schalten. Wir brauchen die Anerkennung, dass wir das machen müssen. Denn wenn die Ressource Mensch nicht mehr da ist oder gar den Beruf verlässt, wird es auch für diejenigen, die bleiben, angespannter. Der Beruf wird in sich unattraktiver. Nur wie finden wir unsere Leute? Wir versuchen, Menschen emotional an unseren Auftrag zu binden und unsere Mitarbeitende für uns sprechen zu lassen, zu erzählen, wie es in dem Beruf ist, was das Gute daran ist. Es gibt gute Benefits: Zuschüsse, Firmenticket, Jobrad, Sportangebote, Vergünstigungen. Wir investieren viel in Team-Tage, inhaltliche Fallberatungen, Coaching, Unterstützung in Stresssituationen durch Präsenz der Führungskräfte, damit sich niemand allein fühlt. Wir setzen verstärkt auf die Suche nach Auszubildenden, die parallel zu ihrer Tätigkeit die Fachlichkeit erwerben und legen viel Wert auf externe Fortbildung, auch interne Fachtage. Mitarbeitende können sich auf vielfältige Weise weiterentwickeln. Zum Beispiel stellen wir Mitarbeitende frei, um für die Arbeit mit Kindern mit Hörbehinderung  Gebärdensprachkurse zu absolvieren. Es gibt auch Mitarbeitende, die selbst gehörlos sind, also Muttersprachler, das ist gelebte Inklusion. Auch diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen wir!

Wie können wir alle dem Fachkräftemangel entgegenwirken?
Mäueler-Görke:
Ich freue mich sehr, dass der BeB den Mut hat, die Perspektive der Menschen mit Behinderung einzunehmen und mit seiner Aktionswoche auf den Fachkräftemangel aufmerksam zu machen. Wir Träger unterstützen den BeB in seiner Forderung, einen Runden Tisch einzurichten, um den Fachkräftemangel als Problem anzuerkennen und gemeinsam mit der Politik Lösungen auf den Weg zu bringen. Eine Gesellschaft ist immer so stark, wie stark ihre Sozialsysteme sind. Es bedarf der gemeinsamen Anstrengung aller. Wir alle können etwas tun. Zuallererst brauchen wir eine Anerkennung der sozialen Berufe. Wir brauchen eine bundesweite Werbekampagne. Zu Corona-Zeiten hat man auf den Balkonen für die Menschen in den sozialen Berufen geklatscht. Jetzt heißt es: Soziale Berufe seien schlecht bezahlt. Schichtdienst und zu viel Verantwortung schrecken ab. Das stimmt aber nicht. Soziale Berufe geben auch viel zurück. In sozialen Berufen erfahren Mitarbeitende und Klienten gegenseitige Achtung und Dankbarkeit. Sie werden auch nicht schlecht bezahlt. Auch wenn ich im Schichtdienst arbeite, habe ich Ausgleichstage. Als alleinerziehende Mutter im Schichtdienst hatte ich mir ein Unterstützungsnetzwerk aufgebaut: Wenn ich Spätdienst hatte, konnte ich den Vormittag für mich nutzen, während meine Tochter in der Kita war. Jetzt mit meinem 9-5-Job habe ich viel weniger Zeit für mich. Es gibt auch positive Aspekte: Pflege ist nicht nur das Wechseln von Inkontinenzmaterial. Sie ist ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Jeder von uns wird alt und kann eine Behinderung erlangen, und dann ist es toll, wenn wir motivierte Menschen haben, die Lust haben, in diesem Beruf zu arbeiten, und dann sollten wir ihnen den Beruf nicht von vornherein madig machen. Das fängt schon in den Schulen an, wo man neugierig machen sollte auf soziale Berufe - durch Praktika oder Projekttage. Sonst geht etwas verloren, das ist schade für die Gesellschaft. Wir brauchen auch gut finanzierte Programme für ein freiwilliges soziales Jahr. Freiwilligendienste eröffnen Erfahrungsräume. 

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