gottestdienst
Gottesdienst in der Evangelischen Stiftung Neinstedt

Predigt: Gedenken an die Opfer der sogenannten "Euthanasie"

18.09.2023

In einem Gottesdienst hat Diakonie-Präsident Ulrich Lilie am Sonntag, 17. September, der Opfer gedacht. Lesen Sie hier die Predigt nach.

Die Gnade unseres Herren Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen! Amen.

Liebe Gemeinde,

„Sorgt Euch nicht!“ sagt Jesus.

Dabei ist doch vielen Menschen weltweit und auch hier, in der Mitte Deutschlands, so sehr nach Sorge zumute:

Und auch unser schmerzhaftes Erinnern, heute hier in Neinstedt im Harz, führt uns mit Sorgen zusammen:

Denn gerade 85 Jahre nach den furchtbaren Verheerungen, Morden und Verwüstungen, die die Barbarei der Nationalsozialisten über Millionen Menschen in Europa, der Welt und auch in Deutschland gebracht hat, ist es wieder soweit.

Nicht nur in der Hass-Sprache sogenannter sozialer Medien, sondern auch auf offener politischer Bühne werden wieder spaltende politische  Parolen gedroschen: von Menschen, die angeblich eine unterschiedliche Wertigkeit hätten. Wegen ihrer Hautfarbe, ihrer sozialen Lage, ihrem Wohnsitz oder dem Grad ihrer Beeinträchtigung.

Es wird wieder sortiert und aussortiert. Zwischen Menschen, die hier geboren sind und denen, die zuwandern. Zwischen denen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen und anderen, die bedürftig sind. Zwischen den Ehrlichen auf dem Lande und den Hipstern aus Berlin-Kreuzberg.

Zwischen lernbereiten, begabten Schülerinnen und Schülern, und solchen, die diese angeblich mit ihren Beeinträchtigungen bei ihrer Entwicklung und beim Lernen stören würden.   

Das treibt auch mir zornige Sorgenfalten auf die Stirn. Und wenn man den Umfragen glauben darf, nach denen 15-20 Prozent der Menschen in unserem Land solchen Parolen  – mit steigender Tendenz – folgen,  dann sind das Entwicklungen, die uns Sorgen machen müssen in einem Land,  in dessen jüngster Geschichte viel zu viele Menschen furchtbare  Ausgrenzung, Spaltung und dann Verfolgungen und entsetzlichen Gewalttaten an Leib und Seele erleiden mussten.

In den 1940er Jahren sind von 1.019 Menschen, Schutzbefohlene, von einem vermeintlichen sicheren Ort weggebracht und die allermeisten von ihnen getötet wurden. Teilweise Kinder oder Jugendliche.  Da gefriert einem der Atem. Und: Wenn Gott, der himmlische Vater weiß, wessen wir bedürfen: Wo war er denn damals, hat er die Sorgen, die Ängste und Nöte dieser Menschen und ihrer Angehörigen erhört?

Musikalisches Intermezzo

Man könnte den ersten Teil dieses Stückes aus der Bergpredigt Jesu ja auch so lesen: als ein naives, billig vertröstendes „Sorgt Euch nicht“; lebt nur unbeschwert in den Tag hinein. Kümmert Euch nicht um Eure Kleidung, Euer Essen und Trinken: Das alles fällt Euch schon von alleine zu. Leben Christenmenschen also wie in einer Art Schlaraffenland der Ahnungs- und der Sorglosigkeit? 

Wer den Text so liest, der hat die Tiefe und Bedeutung dieses Abschnitts nicht verstanden. Denn die Bedeutung dieses Wortes Jesu erschließt sich von seinem Ende her, wo es in Vers 33 heißt:

„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“

Gerechtigkeit. Ein großes Wort. Ein wahres Wort. Sucht in Eurem Leben nach Gerechtigkeit. Was heißt das denn übersetzt auf unser Leben?

Zunächst heißt das: Dass alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, von ihrem Glauben, von ihren jeweiligen Einschränkungen die gleichen oder zumindest ähnliche Chancen haben sollen. Im Bild des Sports gesprochen und mit Worten des amerikanische Denkers John Rawls: Gerechtigkeit ist Fairness.

Wir sollen also als Christenmenschen mit dazu beitragen, dass es fair zugeht im Leben. Fair für alle.

Ist es vor 85 Jahren in Neinstedt etwa fair zugegangen? Nein. Die vielen, vielen Schutzbefohlenen hatten keine faire, gerechte Chance. Sie hatten überhaupt keine Chance.  Dieser Abgrund Von Menschenverachtung läss uns bis heute nicht in Ruhe. Und er darf uns niemals auf dem Erreichten ausruhen lassen, vielmehr sollten wir uns fragen:

Geht es heute wirklich fair, gerecht zu? Leider muss man wohl sagen: Nein. Denn noch immer bestimmt die Herkunft, der Vorname und das Portemonaie oder die vermeintliche Leistungsfähigkeit über weite Strecken das Leben von zu vielen Menschen hierzulande. Jesus ruft uns dazu auf, uns für Gerechtigkeit und Fairness einzusetzen: Hier in Neinstedt – und weltweit.

Es geht Jesus also darum, dass wir eine neue Blickrichtung einnehmen lernen. Es geht ihm um eine grundlegende Neuausrichtung unseres Denkens und Handelns. Von unserer eigenen oft oberflächlichen Bindung an das allzu Alltägliche wie makellose Faltenlosigkeit, schicke Kleidung, gutes Essen, leckeres Trinken hin zu den wirklich entscheidenden Fragen im Leben: Wo finde ich Gottes Gerechtigkeit? Wie kann ich mich sichtbar und mit anderen zuerst an dieser Suche ausrichten?

Der neue und durchaus anspruchsvolle Blick - den uns Jesus selbst an Herz legt -  führt mich, meine ganze Aufmerksamkeit, meine Sinne und meinen Verstand von meinen oberflächlichen Sichtweisen und Bedürfnissen weg, hin auf die lebensentscheidenden Fragen. Und meinen konkreten Mitmenschen, meinen Nächsten, würde Jesus sagen: Was macht mich und ihn, sie und mich wirklich glücklich? Sorglos? Wie kann ich im Frieden mit mir und meinem Nächsten, meinem Mitmenschen gut und gerecht zusammenleben?

Die besondere diakonische Antwort auf diese Frage ist bis heute der treibende Grund dafür, warum in Neinstedt dieses christliche, evangelische Liebeswerk entstand; damals im 19. Jahrhundert mit der Familie Nathusius als Gründungseltern. Sie lautet: Liebe Deinen Nächsten, denn er/ sie ist wie Du.

Darum sollten Jugendliche, die keine großen Chancen hatten, ein erfülltes Leben zu führen, diese Chance endlich bekommen. Weil sie Gottes geliebte Kinder, seine Ebenbilder sind - ganz unabhängig davon, wie beeinträchtigt sie sind. Sie sind wie Du.

Und diese diakonische Antwort, diese christliche Grundüberzeugung von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Menschen ist auch der tiefere Grund, warum die Diakonie Deutschland in diesem Jahr und im Festakt am kommenden Freitag #ausLiebe 175 Jahre Diakonie feiern kann. Gott freut sich mit uns, wenn es fair unter uns zugeht. Er will, dass allen Menschen geholfen wird, ein eigener, selbstbestimmter Mensch zu sein. 

Stetige Mahnung

Was hier vor bald 90 Jahren geschah, die Preisgabe von schutzbefohlenen Menschen, ja ihr Verrat, verkehrte das Wirken und das Versprechen der Inneren Mission in ihr Gegenteil. Statt Gottes Gerechtigkeit zu suchen und die anvertrauten Menschen zu schützen, wurden 1019 Schutzbefohlene ihren Verfolgern preisgegeben.

Dieser Verrat des Wesenskerns der christlichen, evangelischen Liebestätigkeit muss uns eine stetige Mahnung sein.

Darum werden wir wachsam und aufmerksam sein und uns für die Rechte der Menschen einsetzen, die uns anvertraut sind. Wir werden Unfairness und Menschenfeindlichkeit nie wieder hinnehmen.

Wer zuerst nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit sucht, wird die Vielfalt der Menschen als Gottes großes, vielleicht sein größtes Geschenk an uns immer stärker zu schätzen lernen. Gott sei Dank, wir dürfen unterschiedlich sein! Gott sei Dank gibt es Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, Menschen mit und ohne Humor, mit dem gleichen oder einem anderen Musikgeschmack. Wir werden alles dafür tun, dass alle Menschen in diesem Land auch weiterhin ohne Angst verschieden sein dürfen und diese Vielfalt, diesen Reichtum des menschlichen Lebens in vollen Zügen genießen können. Aus Liebe - zu einem Leben in Vielfalt!

Ich wünsche Ihnen hier in Neinstedt, den Hörerinnen und Hören in Mitteldeutschland und weit darüber hinaus Mut zur Zivilcourage für ein solches Leben überall und immer wieder aus Liebe   leidenschaftlich einzutreten.  Trachten wir zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit - zum Wohle aller!

Ich bin sicher.

Dann werden sich manche Sorgen wie von selbst erledigen.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Präsident Lilie legt Rose ab

Im Anschluss an den Gottesdienst, den MDR Kultur übertragen hat, wurden neben der Kirche an einem Gedenkort, in dem die 1.019 Namen der Opfer eingraviert sind, weiße Rosen niedergelegt.

 

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