Dr. Marlene Kowalski, Leiterin Fachstelle "Aktiv gegen sexualisierte Gewalt"

Nachgefragt Fachstelle „Aktiv gegen sexualisierte Gewalt"

29.03.2023

Zum 1. Januar 2023 hat die neue Fachstelle "Aktiv gegen sexualisierte Gewalt" ihre Arbeit aufgenommen. Aufgabe der neuen Fachstelle ist es, die bisherigen Aktivitäten der Diakonie Deutschland zur Prävention und Intervention zu bündeln. Dr. Marlene Kowalski über die Arbeit der Fachstelle.

Welche Aufgaben hat die Fachstelle?

Dr. Marlene Kowalski: Sexualisierte Gewalt in Macht- und Abhängigkeitskonstellationen kann Kinder, Jugendliche und erwachsene Schutzbefohlene, etwa in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder in der Altenhilfe treffen. Ausgehend von den Fallzahlen gehen wir davon aus, dass für Kinder und Jugendliche ein Grundrisiko besteht, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Pro Jahr sind etwa 16.000 Kinder und Jugendliche von sexualisierter Gewalt betroffen, das sind etwa 40 Kinder und Jugendliche pro Tag. Etwa 50 Prozent solcher Übergriffe geschehen im familiären Kontext, etwa 30 Prozent in Institutionen, also in Einrichtungen wie Kitas, Schulen oder Sportvereinen. Auch kirchliche und diakonische Einrichtungen sind zu Tatorten geworden und wir wissen, dass Menschen in stationären Einrichtungen, also etwa in Heimen, besonders verletzlich und abhängig sind, auch heute noch. Nur in seltenen Fällen werden Fremde zu Tätern. Oft kennen Täter und Opfer sich bereits über einen längeren Zeitraum. Es wird angenommen, dass etwa jedes achte Kind schon einmal Erfahrung mit sexualisierter Gewalt gemacht hat. In einer Schulklasse von 30 Kindern sind das etwa zwei bis drei Betroffene.

Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Sensibilität für das Thema zu erhöhen, Hemmschwellen abzubauen und Expertise zu vermitteln. Außerdem wollen wir an die bisherigen Aktivitäten der Diakonie Deutschland anknüpfen und diese weiterentwickeln.

Die Diakonie hat seit 2010 verschiedene Maßnahmen ergriffen, um den Schutz von anvertrauten Kindern und Jugendlichen zu erhöhen. Diese willen wir nun in der Fachstelle bündeln. Wir möchten zudem auch die diakonischen Landesverbände bei dem Umgang mit diesem Thema unterstützen. Da es sich um ein Thema handelt, das Kirche und Diakonie betrifft, arbeiten wir eng mit der Fachstelle der EKD zusammen.

Unsere fünf zentralen Aufgabenbereiche sind Prävention, Aufarbeitung und Anerkennung, Betroffenenbeteiligung, Vernetzung und schließlich das Einbringen von Expertise in den öffentlichen Diskurs.

Wie kann präventiv gegen sexualisierte Gewalt vorgegangen werden?

Kowalski:  Sexualisierte Gewalt entsteht dann, wenn Menschen ihre Macht missbrauchen, um ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten der ihnen anvertrauten Menschen durchzusetzen.

Darum müssen auch Organisationen und Fachkräfte in den Einrichtungen für das Thema sensibilisiert und geschult werden: Wie erkenne ich, ob jemand betroffen ist? Wie spreche ich mit jemanden, von dem ich denke, dass er oder sie Opfer von sexualisierter Gewalt ist? Wie kann ich der betroffenen Person deutlich machen, dass er oder sie sich mir anvertrauen kann? Wie kann ich mit Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen über dieses Thema sprechen?

Sexualisierte Gewalt passiert fast immer in einem Tätersystem. Das bedeutet, dass die Taten durch andere Personen gedeckt, verharmlost oder verleugnet werden. Es gibt in Systemen als Menschen, die wegschauen oder nicht wahrhaben wollen, dass sexualisierte Gewalt in ihrem Umfeld passiert. Für Betroffene ist das sehr problematisch, weil genau diese Menschen ihnen auch helfen könnten. Darum wollen wir die Bedeutung von Schutzkonzepten in Einrichtungen der Diakonie stärken: Wie kann eine Organisation ein schützendes Umfeld aufbauen?

Wichtig ist auch, dass die Betroffenen Menschen finden, denen sie sich anvertrauen können und auch dazu ermutigt werden, ihre eigenen Rechte zu erkennen. Jeder Mensch hat das Recht am eigenen Körper und das Recht „nein“ zu sagen. Wenn wir das vermitteln können, kann das Risiko für sexualisierte Gewalt minimiert werden.

Wo und wie finden Betroffene Hilfe und Unterstützung?

Kowalski: Es gibt die zentrale Anlaufstelle „help“ von Diakonie und EKD. Dort können sich Menschen melden, die selbst betroffen sind. Aber auch Menschen, die einen Verdacht von sexualisierter Gewalt haben. Ebenso gibt es Ansprech:partnerinnen in den diakonischen Landesverbänden und Landeskirchen. Uns ist es sehr wichtig, dass sich Menschen, die von sexualisierter Gewalt in Einrichtungen der Diakonie betroffen sind, uns anvertrauen und schnell Unterstützung erhalten. Darum wollen wir Menschen ermutigen, sich bei den zuständigen Ansprechstellen oder bei uns zu melden.

Wie sieht die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt im Bereich der evangelischen Kirche und Diakonie aus?

Kowalski: Die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt hat immer zwei Seiten: die individuelle und die institutionelle Seite. Zum einen ist es wichtig, dass sich betroffene mit ihren Erfahrungen auseinandersetzen. Aus der Trauma-Forschung weiß man, dass dies oft zeitverzögert passiert. Zum anderen will und muss die Diakonie Verantwortung übernehmen für das, was passiert ist. Derzeit läuft die große Aufarbeitungsstudie ForuM, in der systematisch erfasst wird, wie viele Menschen von sexualisierter Gewalt im Kontext der Kirche und Diakonie betroffen sind und welche strukturellen Bedingungen sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch begünstigen. Im Herbst/Winter 2023 soll die Studie vorgestellt werden.

Was Betroffene vor allem brauchen, ist eine Anerkennung ihres Leidens und eine Abmilderung der Folgen in ihrer gegenwärtigen Situation. Darum sind in den Landeskirchen bzw. diakonischen Landesverbänden Anerkennungskommissionen eingerichtet worden, die Betroffenen auf Antrag individuelle finanzielle Hilfeleistungen zukommen lassen.

Auch die Einrichtungen und die Führungspersonen müssen Verantwortung übernehmen. Viele Betroffene haben die Erfahrung gemacht, dass ihnen nicht geglaubt und sie nicht ernst genommen wurden. Darum ist es so wichtig, dass wir diesen Menschen nun endlich zuhören, ihre Geschichte anerkennen und zu einer Erinnerungskultur beitragen.

Das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche und Diakonie soll darüber hinaus die Aufarbeitung unterstützen. In diesem 2022 initiierten Gremium partizipieren Betroffene an kirchenpolitischen Entscheidungen. Das war ein sehr wichtiger Schritt, um Betroffene stärker in die Aufarbeitung einzubinden. Nun werden regionale Aufarbeitungskommissionen geplant.

Eins unserer Ziele ist ganz klar, die Aufarbeitung weiter voranzubringen. Da sehen wir noch Luft nach oben.

Was muss bei der Aufklärung noch getan werden?

Kowalski: Das Thema muss breit verankert werden. Es braucht mehr Schulungen und die Sensibilität muss erhöht werden. Fachkräfte müssen zum Beispiel erkennen, was für Signale ein Kind aussendet, das von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Zudem sollten Fachkräfte wissen, wie sie Menschen dazu ermutigen können, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Wenn dieses Thema in der alltäglichen Organisationskultur präsent ist, erhöht dies auch die Sensibilität, über Grenzverletzungen und Übergriffe zu sprechen.

Es sollte auch deutlich gemacht werden, dass es Personengruppen gibt, die wesentlich häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen sind als andere. Dazu gehören zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, Menschen, die in stationären Einrichtungen leben oder Menschen, die geflüchtet sind. Auch auf Einrichtungen der Altenhilfe müssen wir den Fokus noch mehr lenken, weil es auch hier ebenfalls zu Übergriffen kommen kann, aber das häufig noch tabuisiert wird.

Im Idealfall wird es eine gesamtgesellschaftliche Dunkelfeldstudie geben. So wissen wir, wie hoch das Ausmaß von sexualisierter Gewalt in Deutschland in allen Kontexten wirklich ist. Der Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt berät sich gerade dazu. Das Thema ist also auch politisch von hoher Relevanz und bleibt eine dauerhafte Aufgabe in kirchlichen und diakonischen Kontexten. Wir haben eine Verantwortung: für die uns anvertrauten Menschen in der Gegenwart, aber auch für Gewalttaten in der Vergangenheit. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber die Einrichtung der Fachstelle ist ein ganz wichtiges Signal, dass wir diesen Weg nun entschieden weiter vorangehen.

 

Kurzbiographie Dr. Marlene Kowalski

Geb. 1989, Studium der Erziehungswissenschaft, Germanistik und Romanistik an den Universitäten Leipzig, Paris und Bern als Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes, Promotion an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit einer Arbeit zu Nähe, Distanz und Grenzverletzungen in pädagogischen Beziehungen, Auszeichnung mit der Luther-Urkunde, Forschungsaufenthalte zu sexualisierter Peer-Gewalt an der University of Cambridge (UK) und zur Bedeutung von Körper, Geschlecht und Inklusion an der University of Texas at Austin (USA), Wissenschaftliche Mitarbeiterin unter anderem an der Universität Kassel im Bereich Professionsethik und an der Stiftung Universität Hildesheim im Bereich Angewandte Erziehungswissenschaft, freiberufliche Referentin in der Organisationsentwicklung und Beratung von Schulen, Kitas und diakonischen Einrichtungen in der Präventionsarbeit und Schutzkonzeptentwicklung, Durchführung einer Studie zu Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt in der evangelischen und katholischen Kirche für die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) in Berlin, Mutter von 2 kleinen Söhnen.

Mitgliedschaft in Gremien (Auszug): 

Marlene Kowalski
© Hermann Bredehorst

Dr. Marlene Kowalski

Leiterin Fachstelle "Aktiv gegen sexualisierte Gewalt"

marlene.kowalski@diakonie.de 030 652111445

Diese Seite empfehlen

Hilfe & Beratungssuche