Tödliche Polizeigewalt - eine Frage von Rassismus?
Beunruhigung und Entrüstung in den von Rassismus betroffenen Communities
Interview mit Valerie Viban, Antirassismusberater im EWDE e.V.
Johannes Brandstäter: Einer unabhängigen Beobachtungsstelle zufolge starben 2024 bundesweit 22 Menschen bei Schusswaffengebrauch durch die Polizei. Bis Anfang Mai 2025 wurden bereits elf neue Fälle gezählt, davon etwa drei mit Migrationsgeschichte, zuletzt in Oldenburg. Im Vergleich zu den USA, wo jedes Jahr hunderte Personen durch die Polizei erschossen werden, sind das geringe Werte. Dennoch: es geht um jeden Einzelfall. Psychische Ausnahmesituationen, in denen die Opfer sich befinden, und häusliche Gewalt bilden oft den Kontext. Den Todesschüssen der Polizei steht eine Zunahme von Gewalttaten überhaupt und auch von Angriffen auf Polizeibeamte gegenüber.
Postmigrantische Initiativen betonen, dass tödliche Polizeieinsätze überproportional oft eingewanderte Menschen und Menschen of Color betreffen. Es gebe verschiedene Vorfälle, in denen rassistische Stereotype Eskalationen der Gewalt begünstigt haben.
Valerie Viban ist seit 2023 Politischer Berater für Antirassismus- und Entkolonialisierungsarbeit im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung. Valerie, wie ordnest du die Geschehnisse ein?
Valerie Viban: Vielen Dank für diese gut recherchierte, aber auch provokante Statistik. Ich finde es bedauerlich, dass in Deutschland nicht alle hier lebenden Menschen dieselbe Meinung teilen, denn natürlich können das Aussehen oder die Art und Weise, wie wir aussehen, darüber entscheiden, wie sicher wir uns fühlen oder wie geschützt wir sind. Wir haben immer noch Mai und wir zählen den Fall Lorenz in Oldenburg als den 11. des Jahres. Da frage ich mich, was die Statistik der Polizeigewalt am Ende des Jahres sagen wird. Rassistisch geprägte Stereotypen speisen die täglichen Gespräche, prägen das, worüber wir lachen oder schimpfen, und unsere Vorstellungen von anderen Menschen. Polizisten und Polizistinnen kommen aus dieser unserer Gesellschaft und werden davon geprägt.
Johannes Brandstäter: Was empfindest du als Person of Color (PoC) bei diesen Nachrichten?
Valerie Viban: Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll, wenn so etwas passiert. Da ich jeden Tag schwarze Kinder sehe, kenne ich ihre Probleme, auch wenn ich sie nicht vollständig kenne, da ich einen anderen Hintergrund habe. Ich höre Eltern zu, die ihren afrodeutschen Kindern Ratschläge geben, wie sie sich in der Nähe der Polizei verhalten sollen, damit sie nicht die nächsten Opfer werden, und das macht mir Angst. Ich bin eher mit der Frage beschäftigt, wie laut wir schreien müssen, um gehört zu werden. Jeder weiß, dass es ein Problem gibt, aber warum verschwindet Racial Profiling nicht einfach?
Johannes Brandstäter: Welche menschenrechtlichen Normen sind betroffen?
Valerie Viban: Ich bin kein Jurist, aber ich weiß, dass im Falle von Polizeigewalt, insbesondere wenn sie zum Tod eines jungen Schwarzen wie Lorenz führt, mehrere grundlegende europäische und globale Menschenrechtsnormen auf dem Spiel stehen. Erstens das Recht auf Leben (Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention / Grundgesetz Artikel 2): Der Staat hat nicht nur die Pflicht, das Leben zu schützen, sondern auch dafür zu sorgen, dass bei der Tötung von Menschenleben, insbesondere durch staatliche Akteure, eine rasche, gründliche, unabhängige und unparteiische Untersuchung durchgeführt wird.
Zweitens das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK): Übermäßige Gewalt, Einschüchterung oder entmenschlichende Praktiken, insbesondere wenn sie rassistisch motiviert sind, können einen Verstoß gegen diesen Artikel darstellen, selbst wenn nicht der Tod die Folge ist. Uns wurde gesagt, der junge Mann habe Pfefferspray benutzt und sei von hinten erschossen worden. Wenn er von hinten erschossen wurde, wie gefährlich kann er dann gewesen sein?
Johannes Brandstäter: Was sagt die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) dazu?
Valerie Viban: ECRI hat viele Probleme benannt, an denen Deutschland in Bezug auf Rassismus arbeiten muss und Deutschland aufgefordert, Racial Profiling bei der Polizeiarbeit zu unterbinden.
ECRI hat Deutschland auch aufgefordert, rassistisch motivierte Straftaten zu dokumentieren. ECRI kritisiert, dass es in Deutschland an belastbaren Daten über rassistisch motivierte Vorfälle und Polizeigewalt mangelt. Ohne Daten bleiben die strukturellen Probleme unsichtbar und werden nicht angegangen.
Bei mehreren Gelegenheiten hat ECRI die Einrichtung eines unabhängigen Beschwerdemechanismus gefordert, an den sich Opfer polizeilichen Fehlverhaltens wenden können. Denn es geht nicht nur darum, Missstände zu melden. Menschen müssen sich sicher fühlen, damit sie reden können. Eine persönliche Erfahrung: Im Dezember 2016 kam ich am Flughafen East Midlands in England an, und der Beamte der Einwanderungsbehörde fragte mich: "Sie riechen stark nach etwas, haben Sie Marihuana oder eine dieser Drogen bei sich, die Afrikaner gerne mit sich führen?“ Das war eindeutig rassistisch, aber ich hatte Angst vor den Konsequenzen, wenn ich mich äußere, also habe ich lieber kooperiert. Das blieb mir definitiv für immer im Gedächtnis.
Johannes Brandstäter: In der Diakonie betreiben wir viele hundert Migrationsfachdienste. Aus manchen Regionen wird von einem zunehmend migrationsfeindlichen gesellschaftlichen Klima berichtet. Es kam zu Anfeindungen, rassistischen Übergriffen im ÖPNV, Rassismus am Arbeitsplatz und zu einer Normalisierung des Alltagsrassismus, offen oder unterschwellig durch Behördenmitarbeitende, durch ärztliches Personal oder bei der Wohnungssuche. Wie nimmst du die Situation wahr?
Valerie Viban: Wir befinden uns, auf Rassismus bezogen, in einem Ausnahmezustand. Wenn das niemandem einleuchtet, dann sollten uns die letzten Wahlen das ein wenig verdeutlichen. Die Ergebnisse zeigen, dass Ausgrenzung und eine Rhetorik gegen Geflüchtete in dieser Gesellschaft stark ausgeprägt sind. Ich habe mich gefragt, was meine deutschen Freunde wirklich darüber denken, dass ich hier bin und hier lebe, oder dass es hier andere Menschen gibt, die wie ich aussehen. Und ja, wie du zu Recht hervorgehoben hast, sind die verschiedenen Dynamiken des Alltagsrassismus vorhanden und weiterhin präsent. Selbst mit einem guten Job und einem komfortablen Leben (was mich übrigens schon auf ein privilegiertes Podest stellt), habe ich drei Jahre lang versucht, eine Wohnung in Berlin zu finden. Es gab mindestens zwei Fälle, in denen nur ich wusste, dass die Wohnungen verfügbar waren. In einem Fall verlangte der Vermieter plötzlich, eine zweite Person die Unterlagen einreichen zu lassen, damit er eine Auswahl treffen konnte, nachdem er herausgefunden hatte, dass mein Name Valerie Viban nicht unbedingt einen französischen Staatsbürger repräsentierte, wie er gedacht hatte. Bei der anderen Gelegenheit erschienen wir tatsächlich zur Besichtigung, und ich vermute, dass der für die Wohnungsbesichtigung zuständige Makler sich zu öffnen weigerte, nachdem er von weitem zwei schwarze Männer gesehen hat. Und noch mehr. Vor einigen Monaten waren es ein schwarzer Mann und ich, die in Mecklenburg-Vorpommern von jungen Weißen angegriffen wurden oder ein Pastor, der in Brandenburg angegriffen wurde. Das sind wiederkehrende Vorfälle. Sie passieren jeden Tag. Es sind auch politische Parteien, die Kampagnen mit Anti-Migranten-Rhetorik geführt haben. Aber ich möchte kein völlig schlechtes Bild unserer Gesellschaft zeichnen, denn es ist unsere Gesellschaft, und es ist unsere Pflicht, daran zu arbeiten, sie besser zu machen. Das zeigt, wie viel wir noch zu tun haben!
Johannes Brandstäter: Was heißt das für unsere soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft? Unser Anspruch ist, zur Schaffung von gleichen Lebensverhältnissen beizutragen und dabei einem rassismussensiblen Ansatz zu folgen.
Valerie Viban: Wir müssen dem Antirassismus in unserer diakonischen Arbeit strategisch Vorrang einräumen. Wir brauchen eine gemeinsame Anstrengung mit Organisationen mit ähnlichem Mandat. Über Rassismus muss auch an unbequemen Orten gesprochen werden, also in den Räumen der Macht, in unseren Vorstandsetagen. Wir haben eine bundesweite Reichweite, die nicht alltäglich ist. Wir werden stark von unseren evangelischen Werten gestützt. Das gibt uns eine starke Stimme. Wenn wir sie ergreifen, werden viele andere folgen. Wir sollten unsere Erfahrungen der Regierung zur Verfügung stellen, um sie zu beraten. Wie Angela Davis sagt: "Es reicht nicht aus, nicht-rassistisch zu sein, wir müssen antirassistisch sein.
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Gemeinsames zivilgesellschaftliches Statement von Neuen Deutschen Organisationen (ndo), Migrationsrat Berlin und Each One Teach One e.V.
Forschungsbericht der Polizeiakademie Niedersachsen zu Diskriminierungsrisiken in der Polizeiarbeit
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