Episode 2:
eine männliche Perspektive
"Ich spreche gern über Gefühle. Bürgergeld beziehen ist zum Beispiel total schambehaftet."
Frieda Wittenborn
Zur Serie
Illustrierte Originalzitate - eine Person eine Episode. Menschen sprechen über ihre "genderspezifischen" Armutserfahrungen. Was "Gender" heißt? Gender ist die gesellschaftlich geprägte und erlernte Geschlechterrolle: das soziale Geschlecht. Warum das wichtig ist: Armutslagen hängen sehr stark mit der sozialen Geschlechterrolle zusammen. Wer mehr wissen will, findet am Ende jeder Episode Zahlen, Zusammenhänge, Vorschläge für gendergerechte Lebensbedingungen verlinkt. Um Armut abzuwenden, braucht es Entscheidungen und Handlungen. Gute Entscheidungen brauchen allerdings neben Statistiken auch erlebte Expertise und emotionale Verbindungen.
Die Stimme in Episode 02 gehört einem Mann mit Armutserfahrungen. Er war Unternehmer und ist Künstler. Die Originalaussagen sind unkommentiert. Es sind kurze Ausschnitte aus dem Erlebten, solidarischen Strategien, Einschätzungen.

„Ich war Geschäftsführer und Workaholic. Ich habe Graffiti- und Künstlerbedarf verkauft. Dann hatte ich ein Burnout, dann noch eines. In der Graffitiszene, da steckt der „Battle-Gedanke“ drin. Stärke ist nur eins: Krasssein. Alle wollen die Krassesten sein. Mir hat „Ich-Sein“ gefehlt. Ich musste da raus, um wieder zu mir zu kommen.“

„Das enge Männerbild - das war eine heftige Belastung. Fußballspielen oder Autos, das war nie so 'n Thema für mich. Und ich war schüchtern bei Frauen.
Ich hab privat viel mit Frauen zu tun. Das ist ein Miteinander, das ich angenehm finde. Wenn ich mich umsehe: andere Männer hatten eine einzige Frau im Umfeld: ihre Partnerin. Frauen waren für mich oft die interessanteren Gesprächspartner. Es war verständnisvoller, wir konnten besser über Inhalte reden. Es ist nicht so an der Oberfläche und offener.“

„Nebenberuflich mache ich Buchhaltung. Ich bin Künstler, super viele Künstler leben prekär. Ich mache Dokumentarfotografie. Mir haben Leute bei einem Projekt gesagt, du hast doch jetzt genug gute Fotos, hör auf. Ich wusste, die Probleme, die ich dokumentiere, sind so viel komplexer. …. Letztens habe ich einen Artikel gelesen: Autoren schreiben mehr über ihre Armut, liegt ja nah. Maler und Fotografen weniger. Das bringt mich zum Nachdenken.“

„Ich hole mir mega viel Unterstützung. Ich spreche gern über Gefühle. Bürgergeld beziehen ist zum Beispiel total schambehaftet. Ich ermutige Leute darüber zu reden. Es gibt auch Männer, die auf mich zukommen und bei mir ein offenes Gespräch suchen. Das nehme ich mittlerweile auch wahr.“
Armut und Männer
Männer haben eine geringere Lebenserwartung – um fünf Jahre weniger. Sie gehen seltener zum Arzt, sie sind aufgrund ihres Risikoverhaltens verantwortlich für mehr Unfälle, sie verbringen weniger Zeit mit ihren Kindern und stecken folglich weniger Zeit in die Kindererziehung. Ähnlich verhält es sich bei der Pflege von Verwandten und im Haushalt. Die teure Unterbringung in Haftanstalten betrifft zu über 90 Prozent Männer. Homosexuellenfeindlichkeit und Feindlichkeit gegenüber transgeschlechtlichen Frauen ist bei Männern stärker ausgeprägt. Was hat das mit Bildern in unser aller Köpfe zu tun? Welche Erwartungen werden in der Erziehung und im Leben an Männer gerichtet? Und wie geht es Männern damit?
Ungesunde stereotype Männlichkeitsvorstellungen lassen sich auf wenige Worte bringen. Das klingt zum Beispiel so: ein Mann ist erst ein Mann, wenn er in den Wettbewerb mit anderen geht. Risko ist männlich. Geld ist männlich. Und ein Mann ist erst ein Mann, wenn er Geld Nachhause bringt. Männern mit Armutserfahrung wird in dieser Abwertungslogik ihr Mannsein abgesprochen. Das ist menschlich schmerzvoll und für fachliche Diskurse schlicht irreführend.
Auf der Suche nach Männern, die mit mir über Männlichkeit sprechen, habe ich einen gut vernetzten Männeraktivisten aus der Schweiz dazu gefragt, wer im deutschsprachigen Raum zum Thema Männer und Armut forscht und arbeitet. Die Antwort kam verzögert: spontan, nein, spontan wisse er niemanden. Er habe selbst Armutserfahrungen aus der Kindheit. Und wenn er ehrlich sei, dorthin zu fühlen, das sei schmerzhaft. Ein Mann zu sein, der arm ist, würde das nach gängigen Stereotypen nicht bedeuten kein Mann zu sein?
Das sind harte Worte und abwertende Stereotypen. Und sie sind nicht in Stein gemeißelt. Sie sind menschengemacht und werden von Menschen verändert.
Ein Wort zur Demokratie: Die Serie wird veröffentlicht, während starke internationale antifeministische Vernetzungen stattfinden. Bestrebungen, die einschränkende Rollenvorstellungen für alle Geschlechter vorsehen. Vorstellungen, die sich negativ auf Existenzsicherung und Wohlergehen auswirken. Zugleich sind die Fallzahlen von Hasskriminalität gegenüber Frauen und queeren Personen gestiegen, die Fallzahlen von Männerfeindlichkeit sind gesunken. Diese Serie ist ein grundlegender Betrag zu einer Demokratie der Gleichwertigkeit von Menschen.
Mehr zu Einkommen und Gendergerechtigkeit im Kunstsektor: Für einen Einblick sei empfohlen der Artikel des Monopol Magazin[1]: „Warum die Kunstwelt über Armut reden muss“
[1] Quelle: Warum die Kunstwelt über Armut reden muss, In: Monopol Magazin, 2025: https://www.monopol-magazin.de/auf-dem-boden-der-prekaeren-tatsachen (Abruf 07.05.2025)