Psychiatrische Hilfen

Seit der Zeit um 1800 erschien der psychisch Kranke in den sich ausbreitenden Institutionen der Psychiatrie dem Anspruch der Aufklärung gemäß als mündiger Bürger. Mit dem Begriff der psychischen Heil- und Pflegeanstalt grenzten sich die Reformer dieser Zeit von den bereits bestehenden öffentlichen Einrichtungen ab. Mit der Änderung des Namens wurde die Psyche als Ort der Erkrankung im Gegensatz zu der theologisch besetzten Seele benannt. Erkrankte sollten fernab der vom Wohnort gelegenen Anstalt geheilt werden. Die Kurmethoden orientierten sich an der zeitgenössischen Pädagogik. Gehorsam wurde ein Maßstab des Heilerfolges in der Medizin. Die Psychiatrie verabschiedete sich von der bürgerlichen Kultur der Städte und von den Zentren der medizinischen Forschung an den Universitäten. Die Mehrheit der Menschen, die heute als psychisch krank bezeichnet würden, lebte aber weiterhin auf dem Land, in Gefängnissen, Bezirksbewahranstalten, Arbeits- und Armenhäusern.

Anfang des 19. Jahrhunderts erhoben Ärzte ihren Anspruch auf die empirische Erforschung der Krankheitsbilder. Sie untersuchten das Wechselverhältnis von Seele und Körper. Angenommen wurde, dass nicht nur der Verstand, sondern auch das Gefühl, der Instinkt und der Willen erkranken können. Die Behauptung, kriminelles Verhalten und „Verstandesverrückungen“ seien anhand von physiologischen Veränderungen nachzuweisen, stärkte die pathologische Forschung. Dieser Zugriff stellte die gerade erst in der Rechtsprechung durchgesetzten liberalen Prämissen in Frage, dass jeder Mensch für sein Handeln verantwortlich sei und somit bei Verletzung der geltenden Gesetze zur Rechenschaft gezogen werden könne. Die Zunahme der richterlichen Anfragen nach medizinischen Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit von Straftätern zeigte den wachsenden Einfluss der Ärzte. Als Experten legten sie Normen fest, um vielfältige Formen abweichender Verhaltensweisen einzuschätzen. Die Debatte um das Erkennen und Aussondern von Delinquenten bestimmte die Auseinandersetzung zwischen Psychiatrie und Strafjustiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Anstaltspsychiatrie

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland private und öffentliche psychiatrische Anstalten aufgebaut. Dahinter stand nicht allein die Annahme, dass der Patient nur genesen könne, wenn er sich von den Lebensumständen verabschiedete, unter denen er krank geworden war. Der preußische Staat hatte wenig Interesse an dem Auf- und Ausbau von Einrichtungen für chronisch psychisch Kranke und Menschen mit Behinderungen. Diese Aufgabe übernahmen die konfessionellen Einrichtungen. Die konfessionelle Anstaltsfürsorge unterlag den Vorgaben der Provinzialbehörden.

Der Staat regelte die Anstellung von Anstaltsärzten und Vorschriften über die Aufnahme und die Entlassung von Kranken. 1895 wurden „Irrenanstalten“ mit „Epileptiker- und Idiotenanstalten“ in Preußen gleichgestellt.

Das Heil- und Pflegeanstaltswesen wurde bis Einbruch der Ersten Weltkrieges ausgebaut. Um die Jahrhundertwende hatte sich die Zahl der Anstaltsinsassen mehr als verdoppelt. Die Kapazität der Neubauten konnte den Bedarf kaum decken. Mit Ausbruch des Krieges stieg die Zahl der Anstaltsinsassen weiter an. Wegen der katastrophalen Versorgung starben in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten in Deutschland bis 1919 über 140.000 Menschen an Hunger und Infektionskrankheiten.

In den staatlichen Einrichtungen erhöhte sich dann nach dem Ersten Weltkrieg die Aufenthaltsdauer der Patienten um ein Vielfaches. In den zwanziger Jahren gehörte Überbelegung zum Alltag. Wohnungsnot und Massenarbeitslosigkeit erschwerten die Rehabilitation. Punktuell wurde die wirtschaftliche Schieflage durch die anstaltseigene Landwirtschaft ausgeglichen. Mit Einsetzen der Wirtschaftskrise 1929 sank die Zahl der Psychiatriepatienten im Deutschen Reich nur für kurze Zeit. Dabei vergrößerte sich der Anteil der Schwerkranken. Die Pflegesätze wurden auf ein niedriges Niveau abgesenkt. Ab 1933 wurden Sparmaßnahmen dennoch weiter intensiviert. Die Anzahl der in Anstalten untergebrachten Menschen stieg auf 340.000 im Jahr 1939.

Krankenmorde und Hungersterben

Spätestens ab 1939 bot der Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung keine Sicherheit mehr. Von 1939 bis 1945 fand in vielen Einrichtungen die so genannte „Kindereuthanasie“ statt. Zudem wurden von 1939 bis Mitte 1941 über 70.000 psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen ermordet. In Grafeneck in Württemberg, Brandenburg an der Havel, Hartheim bei Linz, Sonnenstein in Pirna, Bernburg an der Saale und Hadamar bei Limburg wurden eigens Gaskammern und Krematorien eingerichtet. Die nicht gleichzeitige Verteilung der Meldebögen an die Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich wirkte sich regional unterschiedlich aus. Im Rheinland, in Westfalen und Hannover wurden weniger als 20 Prozent der Menschen ausgeliefert. In Berlin, Sachsen, Württemberg und Baden wurden über 50 Prozent der Bewohner der Heil- und Pflegeanstalten in andere Einrichtungen verlegt und ermordet. Nach öffentlichen Protesten wurden 1941 die Verlegungen in diese Tötungseinrichtungen eingestellt. Stattdessen wurden weiterhin Patienten in bestimmten staatlichen Anstalten durch Nahrungsentzug, Medikamente und Vernachlässigung getötet. Die Verantwortung für die katastrophalen Bedingungen wurde so Medizinalverwaltungen, Ärzten und Pflegepersonal übertragen. Auch wenn bis Kriegsende dauernd eine Bedrohung bestand, versprach der Aufenthalt in den Anstalten der Inneren Mission mehr Sicherheit als in staatlichen Anstalten. Die Verlegungen wurden dann ab 1942 wieder verstärkt, als Anstalten für Ausweichkrankenhäuser, Wehrmachtslazarette und Umsiedlerunterkünfte geräumt wurden.

Stagnation

Noch in den fünfziger Jahren war die Psychiatrie durch die Verwaltung des Mangels gekennzeichnet. Gravierende bauliche Mängel und Überbelegungen prägten den Stationsalltag. Zunehmend wurden pflegebedürftige und alte Patienten in den neu eingerichteten Alters- und Pflegeheimen untergebracht. Zentrales Merkmal der Nachkriegsperiode war, wie in der gesamten Diakonie, ein bedrückender Mangel an qualifizierten Arbeitskräften aller Berufsgruppen. Die zumeist im klinischen Bereich üblichen Somatotherapien wie die teuren Insulinkuren, deren Anwendungen im jeweiligen Einzelfall gegen die Krankenkassen erstritten werden mussten, verloren zunehmend an Bedeutung. Aber auch die preisgünstige Methode der Elektrokrampftherapie wurde bald von den in den USA entwickelten Psychopharmaka abgelöst. Gerade bei vielen Langzeitpatienten bewirkten die Psychopharmaka eine deutliche Besserung der Symptome. Unruhezustände und aus Verkennungen resultierende Aggressionen ließen sich ab 1951 pharmakologisch therapieren. Die Medikamente ermöglichten zudem die ambulante Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen. Psychotische Episoden konnten deutlich verkürzt und Rückfälle vermindert werden.

Im Bereich Psychiatrie lebten Bewohner mit sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern zusammen. Entscheidend für die Verteilung der Patienten in die einzelnen Behandlungseinheiten war in der Regel noch immer das jeweilige Maß an psychischen Auffälligkeiten. Patienten mit unterschiedlichen medizinischen Diagnosen wurden entweder auf so genannten ruhigen oder unruhigen, offenen oder geschlossenen Stationen aufgenommen. Die Prognose, inwieweit sie zukünftig auto- und fremdaggressive Verhaltensweisen zeigen würden, bestimmte den Ort der Unterbringung. Ein weiteres Merkmal zur Einschätzung der Patienten bot der Bedarf der Patienten an Pflege wegen körperlicher Gebrechen. Auch wurden Menschen mit geistigen Behinderungen im Bereich Psychiatrie behandelt, wenn sie aggressive Verhaltensweisen zeigten. Gerade Patienten mit Doppeldiagnosen lebten in den geschlossenen Bereichen der einzelnen Häuser zusammen. In den Abteilungen für chronisch Kranke gab es überwiegend Patienten mit der Diagnose Schizophrenie und zunehmend gerontopsychiatrische Krankheitsbilder.

Sozialpsychiatrie

Die Wende der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik begann jedoch erst mit der Psychiatrie-Enquete. Die öffentliche Diskussion wurde weniger durch schon zuvor aufrüttelnde Berichte in der Fachöffentlichkeit initiiert, sondern durch die sich häufende Berichterstattung in den Medien. Der Bundestag befasste sich erstmals 1970 mit der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik. Ab 1971 trat die vom Parlament berufene Sachverständigenkommission über die Lage der Psychiatrie zusammen. Diese Kommission veröffentlichte 1973 einen Zwischenbericht, der die katastrophale Situation der Psychiatrie hervorhob. Mit ihm wurden die Prinzipien psychiatrischer Versorgung festgelegt. Die Grundsätze waren gemeindenahe Versorgung, bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten, Koordination aller Versorgungsdienste, Förderung von Selbsthilfe und die Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken.

Die Reform stellte ein Modell für den Umbau des Sozialstaats dar. Voraussetzung dafür war die Öffnung, Verkleinerung und Differenzierung der Anstalten mit mehr als 1000 Betten. Kennzeichnend für den Wechsel von der Anstalts- zur Gemeindepsychiatrie war, dass sie nicht nur von den Landesregierungen verordnet und von der Bundesregierung begleitet wurde, sondern letztlich von den Mitarbeitern aller Berufsgruppen des Bereichs Psychiatrie getragen wurde.

Mit der Durchsetzung eines neuen therapeutischen Ideals sollten demokratisch orientierte Leitideen in der Praxis gelten, die innerhalb der Anstaltshierarchie neue Ordnungen zu schaffen versprachen. Neben therapeutischen Teams sollten kollegiale Leitungsgremien ins Leben gerufen werden.

In den siebziger Jahren wurden in den größeren Anstalten verschiedene medizinische Fachbereiche getrennt. Diese waren die Bereiche Psychiatrie, Neurologie und Epilepsie. In vielen Städten wurden nach und nach die Kliniken, der mittelfristige Bereich, der Langzeitbereich, die Tagesklinik, die Ambulanzen und die rehabilitativen Dienste zusammengeführt.

Mit der Psychiatrie-Personalverordnung von 1992 wurden umfassende Qualitätskriterien der psychiatrischen Versorgung zusammengestellt, die empirisch überprüfbar waren. Erstmals diente als Orientierung der Personalplanung nicht mehr die Größe Bett als Maßstab zur Berechnung. Die Bundesregierung legte mit dieser Rechtsverordnung eine Grundlage der Personalbemessung vor, die sich an den therapeutischen Bedürfnissen der Patienten ausrichtete. Bestandteil war auch die psychiatrische Pflege für chronisch und schwer Erkrankte. Die Vorleistungen der jahrzehntelangen Bemühungen um bessere Behandlungsbedingungen und Professionalisierung nichtakademischer Berufsgruppen wurden damit vom Gesetzgeber anerkannt.

Gemeindepsychiatrie

Die Reform umfasste nicht nur die Änderung der beruflichen Haltung gegenüber psychisch Kranken. Vielmehr wurde ein kommunales Versorgungsnetz für psychisch Kranke auf- und ausgebaut. Der Umbau des sozialen Systems auf kommunaler Ebene folgte den Empfehlungen der Expertenkommission von 1988. Sie boten eine bemerkenswerte Analyse administrativer und sozialrechtlicher Problemstellungen und lieferten fachlich konkrete Anwendungs- und Verbesserungsorientierungen, die bis heute aktuell sind. Jede einzelne gemeindepsychiatrische Einrichtung entstand also nicht spontan, sondern resultierte aus langjährigen Planungen von Bund, Ländern, Kommunen und den Trägern vor Ort. Den Inhalten der Psychiatrie-Enquete folgend, hatte die Expertenkommission eine funktionelle Aufgabenverteilung einzelner Einrichtungen innerhalb eines Versorgungsgebietes festgelegt.

Die Kommission erkannte, dass die Medizin und das Sozialversicherungssystem den Umgang mit psychisch Kranken bestimmten. Die wichtigsten Kriterien für den Erfolg ärztlichen Handelns wie für die Reichsversicherungsordnung war die Wiederherstellung der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit. Wurden diese Ziele nicht erreicht, führte dies zum Abbruch der therapeutischen Beziehungen und zur Ausgrenzung aus dem Leistungssystem der Versicherung. Im Mittelpunkt des Interesses standen gerade deshalb die chronisch Kranken. Gemeindepsychiatrie sollte eine Brückenfunktion zwischen dem Aufenthalt im Krankenhaus und dem Lebensumfeld des Patienten ausfüllen.

Diese Brücke wurde in der Enquete noch als eine Kette von Diensten inner- und außerhalb der Anstalten dargestellt. Nach diesem Modell wurde ein Netz aus Behandlungseinheiten für Personen mit einem ähnlichen Hilfebedarf geschaffen. Bei Veränderung des persönlichen Hilfebedarfs erforderte dies aber den Wechsel der Maßnahmen. Ziel der kommunalen Psychiatrie war die Anpassung sozialer und medizinischer Dienste an die Bedürfnisse der Klienten. Zentralisierung, Aufteilung in Funktionsbereiche, Trennung von Innen- und Außendiensten, strenge hierarchische Strukturen mit klaren Kontroll- und Kompetenzabgrenzungen waren von den Bedürfnissen der Patienten weit entfernt. Häufig waren die Erkrankten nicht in der Lage, ein Angebot anzunehmen oder sie wurden gleichzeitig von mehreren Institutionen betreut. Gefordert wurde deshalb die Entwicklung von Modellen bedarfsgerechter Versorgung.

Der Wandel der konkreten Sozial- und Gesundheitsplanung sollte von den sozialen und medizinischen Einrichtungen ausgehen. Deshalb wurde ein hoher Aufwand an gesundheits- und sozialpolitischer Arbeit auf kommunaler Ebene notwendig. Die Reformer waren Kenner der Sozialgesetzgebung und der kommunalen Bürokratie. Für die strategische Planung und praktische Umsetzung von Forderungen der Enquete innerhalb der Kommune wurden neue Gremien geschaffen. Die Position der Ärzte wurde durch die Psychiatriereform gestärkt, weil sie als Experten für die Kooperation und die Koordination innerhalb der Gemeindepsychiatrie auftraten. Sie erreichten den dauerhaften Übergang der fachinternen Debatten in die Sozial- und Kommunalpolitik.

Die „Aktion Psychisch Kranke“ war für die Planung und die Begleitung des Aufbaus der Versorgungsnetze in der Bundesrepublik verantwortlich und kritisierte 1997 nachträglich die eigene Haltung. [Die Aktion Psychisch Kranke, Vereinigung zur Reform der Versorgung psychisch Kranker e.V., wurde 1971 gegründet. Ihre Aufgabe ist, unabhängig von der Parteienzugehörigkeit die Interessen psychisch Kranker im Bereich der Politik zu vertreten. Die Aktion war Projektträgerin der Enquete-Kommission und praktisch aller nachfolgenden nationalen Expertenkommissionen.] Man müsse nicht mehr grundsätzlich über Betten und Plätze verhandeln, sondern über die Leistungen der Einrichtungen im Hinblick auf den individuellen Bedarf des einzelnen psychisch Kranken. Seitdem gilt die Erbringung personenzentrierter Behandlungs- und Rehabilitationsprogramme als zentrales Qualitätskriterium für ein psychiatrisches Hilfesystem. Bei diesem Ansatz soll gemeinsam mit dem psychisch Kranken ein individueller Bedarf festgestellt werden, um dann entsprechend ein umfassendes Hilfepaket zu organisieren. Die Herausforderung liegt darin, hierfür die personellen, organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Literatur:

Franz-Werner Kersting (Hg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn u.a. 2003.

Uwe Kaminsky: Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland, Köln 1995.

Doris Kaufmann: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die „Erfindung“ der Psychiatrie in Deutschland 1770-1850, Göttingen 1995.

Heinz Schott, Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006.

Carlos Watzka: Vom Hospital zum Krankenhaus. Zum Umgang mit psychisch und somatisch Kranken im frühneuzeitlichen Europa, Köln, Weimar, Wien 2005.

Autorin: Barbara Randzio

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