"Öffentliche Mission" – Die Publizistik der Inneren Mission

Kontext der Verbandspublizistik

Im 19. und 20. Jahrhundert erlebte die evangelische Publizistik durch die Impulse der Inneren Mission einen enormen Aufschwung – nicht zuletzt durch den systematischen Ausbau des evangelischen Pressewesens auf dem Boden des evangelischen Vereinswesens, das der Moderne und einer sich allmählich abzeichnenden Kommunikationsgesellschaft Rechnung tragen wollte.

Das massenhafte Aufkommen neuer unterhaltender und populärwissenschaftlicher Lesestoffe seit den 1840er Jahren kam dem Bedürfnis nach moralischer Belehrung und Novitäten entgegen. Bildungseifer und Informationsdurst nahmen beträchtlich zu. Die damals zur Verfügung stehenden Medien, vorrangig Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Flugschriften, erweiterten die öffentliche Kommunikation. Eine Blütezeit des Schriftenwesens brach an. Hausierende Händler, so genannte Kolporteure, sorgten für die massenhafte Verbreitung von Kalendern, Volksbüchern, Groschenheften, Streitschriften, Flugblättern, Zeitschriften, Liedersammlungen, Romanen und Konversationslexika.

Mit dem Entstehen der Massenpresse gegen Ende des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Presselandschaft tiefgreifend. Politische, wirtschaftliche, technische und kulturelle Faktoren trugen zum Entstehen auflagenstarker und billiger Blätter bei. 1874 hatte das Reichspressegesetz sämtliche Zensur- und Präventivmaßnahmen untersagt. Dennoch konnte der Reichstag die Pressefreiheit einschränken oder aufheben. Parteien wandten sich verstärkt der Presse zu, um ihre Anhänger zu informieren, eigene Positionen zu bekräftigen und neue Mitglieder zu gewinnen.

Am Ende des 19. Jahrhunderts dominierten drei Zeitungstypen die Presselandschaft; es handelte sich dabei um Gesinnungsblätter der politischen Parteien, der Kirchen und sonstiger weltanschaulicher Gruppierungen. Die Entwicklung neuer technischer Medien zu Beginn des 20. Jahrhunderts erweiterte das publizistische Instrumentarium zur öffentlichen Kommunikation. Als Reaktion auf die Kommunikationsgesellschaft des 19. Jahrhunderts begann der Verbandsprotestantismus seinerseits, die mediale Publizistik zu nutzen.

Öffentlichkeitsarbeit zwischen Kontroverspublizistik und Volksbildung

Wertvolle Impulse verdankte die evangelische Publizistik im 19. Jahrhundert u.a. den Überlegungen des Theologen und Publizisten Johann Hinrich Wichern. Liberalismus, Sozialismus, ein nach dem Kulturkampf wieder erstarkter Katholizismus und die Wissenschaftsgläubigkeit der Gebildeten forderten die evangelische Publizistik zu Apologetik und Polemik heraus. Die Motivationen apologetischer Publizistik standen in engem Zusammenhang mit politischen, aber auch geistes-, kultur- und pressegeschichtlichen Entwicklungen. Das politisch-soziale Anliegen der Inneren Mission ließ das Individuell-Moralische in den Hintergrund treten. Die Konfrontation des Evangeliums mit der Welt erforderte für den Verbandsprotestantismus ein stärkeres Eingehen auf die Lebenswirklichkeit der Menschen in sozialer wie auch religiöser Hinsicht. Dies führte dazu, dass sich innerhalb der Inneren Mission neue Sonderarbeitsbereiche herauszukristallisieren begannen. Dabei spielte die publizistische Arbeit für das Anliegen der Inneren Mission eine hervorgehobene Rolle.

Wichern hielt die evangelische Publizistik für das geeignete Instrumentarium, um das soziale Engagement der Kirche in weite Kreise der Öffentlichkeit hineinzutragen. Hinter seinen Überlegungen stand auch ein apologetisches Motiv. Durch das publizistische Engagement der Kirche sollte der ‚kommunistischen’ und liberalen Propaganda effektiv entgegengetreten werden. Die widerchristlichen Mächte wollte er mit ihren eigenen publizistischen Mitteln schlagen.

Wichern berücksichtigte alle damals zur Verfügung stehenden Medien und wollte sie insbesondere für die Volksbildung einsetzen. Die vier wichtigsten publizistischen Mittel waren für ihn christliche Volksliteratur, Flugschriften, Zeitschriften und Kolportagen. Er selbst bediente sich in Gestalt von Reden auf Kirchentagen und Vorträgen primär originärpublizistischer Formen, die durch die medial vermittelte Publizistik wie religiöses Bild, Flugschriften, Zeitung, Zeitschrift und Buch ergänzt wurden und öffentlichkeitswirksam das Anliegen der Inneren Mission vertraten. Die seit September 1844 von Wichern herausgegebenen ‚Fliegenden Blätter’ berichteten regelmäßig und ausschließlich – und das war ein Novum inmitten der kirchlichen und säkularen Presselandschaft – über soziale und kirchenspezifische Ereignisse. Die publizistischen Beiträge des Hamburger Theologen wollten aufklären und beeinflussen. Sie standen ganz im Zeichen der religiösen Überzeugungswerbung und forderten zur sozialpolitischen Tat auf.

Aufschwung der christlichen Volkspresse

Auf dem Feld der Inneren Mission erlebte die christliche Volkspresse seit 1848 infolge der Impulse Wicherns einen feststellbaren Aufschwung. Sonntagsblätter und illustrierte Wochenzeitschriften versuchten, mit erbaulichen Betrachtungen und Erzählungen Interesse für die Arbeit der Inneren Mission zu wecken. Tatsächlich erreichten sie – entgegen ihrer eigentlichen Intention – einen ohnehin kirchlich gebundenen Rezipientenkreis, vor allem bürgerliche Kreise und die Landbevölkerung. Der Zugang zu einer breiten Öffentlichkeit, vor allem zu neu entstandenen, mit der Industrialisierung aufkommenden sozialen Gruppen, blieb der Kirchenpresse indes versagt. Die Innere Mission erkannte dieses Defizit. Wichern und der Central-Ausschuss für die Innere Mission (CA) wollten mit dem gedruckten Wort dem geistigen Notstand in der Öffentlichkeit entgegentreten. Spezialkonferenzen wandten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts gezielt der Tagespresse zu. Sie sollte ‚christianisiert’ werden. Nicht mehr Bekämpfung, sondern christliche Präsenz in ihr – so lautete die neue publizistische Zielsetzung der Inneren Mission. Auf diesem Wege sollten die kirchenfernen Gebildeten erreicht und der kirchliche Einfluss auf die Öffentlichkeit insgesamt verstärkt werden.

Institutionalisierung evangelischer Publizistik

Die Gründung des ‚Evangelisch-Sozialen Preßverbandes’ (ESP) der Kirchenprovinz Sachsen im Jahre 1891 bildete den Beginn der institutionalisierten evangelischen Publizistik. Sie war zum einen Reaktion auf die zeitgenössischen sozialen Herausforderungen und zum anderen der Versuch, eine publizistische Gegenbewegung zum Anwachsen der sozialistischen Presse zu schaffen. Zum Sekretär und Mitarbeiter wurde Stanislaus Swierczewski, Pfarrer in St. Ulrich bei Müncheln/Bezirk Halle, berufen. Das neue publizistische Ziel hieß ‚öffentliche Mission’: Sie sah die ‚Vertretung evangelischer Weltanschauung’ sowie die Bekämpfung von ‚Gottentfremdung’ und der Unsittlichkeit in der Presse vor. Beim ESP handelte es sich um den ersten evangelischen Presseverband, der eigene Presseerzeugnisse herstellte und die weltiche Tagespresse belieferte.

In der Folgezeit nahm die Zahl der Presseverbände in den einzelnen Landeskirchen und Kirchenprovinzen deutlich zu. Als Vereine der Inneren Mission belieferten sie die regionale Tagespresse mit kirchlichen Nachrichten, edierten teilweise aber auch eigene Artikelserien und Broschüren. Leitmotiv dieser Presseaktivitäten war die ‚Christianisierung der weltlichen Presse’.

Die evangelische Pressearbeit konzentrierte sich im Wesentlichen auf die kritische Beobachtung der Tagespresse sowie auf die Errichtung einzelner Pressebüros in den Großstädten. 1910 wurde als Dachverband der ‚Evangelische Preßverband für Deutschland’ (E.P.D.) mit Sitz in Berlin gegründet. 1912 waren ihm 16 Presseverbände, vier Presseausschüsse und 37 kirchliche Vereine angeschlossen. Damit gelang ein wichtiger Schritt zur Organisation, Systematisierung und Zentralisierung evangelischer Pressearbeit, die sich damit offiziell von der Verbandsstruktur der Inneren Mission löste und sich zum eigenen Handlungsfeld entwickelte.

Neuorientierung evangelischer Publizistik in der Weimarer Republik

Mit der Weimarer Republik änderte sich auch das Verhältnis zwischen Staat und evangelischer Kirche grundlegend. Der Verlust des Summepiskopats machte eine Neubestimmung des kirchlichen Selbstverständnisses notwendig. Die wirkte sich auch nachhaltig auf die evangelische Publizistik aus, die nunmehr ihren Öffentlichkeitsanspruch unter veränderten Bedingungen neu zur Geltung bringen musste. Maßgeblichen Anteil daran hatte August Hinderer (1877-1945), seit 1919 Direktor des Evangelischen Preßverbandes, der ein neues Konzept evangelischer Öffentlichkeitsarbeit entwickelte, das den neuen Medien Rechnung trug. Zeitgleich begann auch der CA seine Einflussmöglichkeiten auf die Öffentlichkeit zu intensivieren, indem er 1924 beschloss, einen Propagandadienst einzurichten. Dieser sollte sowohl der Durchführung zentraler Propagandaaufgaben als auch der Mittelbeschaffung dienen. Als eine seiner ersten Aufgaben nahm sich der Propagandadienst der Schaffung und des Vertriebs eines einheitlichen Abzeichens der Inneren Mission an. Das Kronenkreuz wurde im Herbst 1930 auf der Tagung des Internationalen Verbandes für Innere Mission und Diakonie in Uppsala als internationales Abzeichen anerkannt. Darüber hinaus wurden Ausstellungen, Filmproduktionen und Rundfunksendungen als zukunftsweisende Medien für die eigenen Anliegen des Propagandadienstes eingesetzt.

Zeit des Nationalsozialismus

Von 1933 an schränkte der Nationalsozialismus die evangelische Publizistik zunehmend ein und beseitigte sie schließlich ganz. So war auch die Sammlungstätigkeit des Propagandadienstes starken Repressionen ausgesetzt. Die ursprünglich angestrebte ‚öffentliche Mission’, die in der Weimarer Republik ihre Blütezeit erlebt hatte, konnte nicht weiter betrieben werden. Auch die institutionalisierte evangelische Publizistik war großen Repressionen ausgesetzt. Über die theologische Basis evangelischer Publizistik konnte keine Einmütigkeit erzielt werden. Hier standen sich Auffassungen des Kulturprotestantismus und die Thesen der Dialektischen Theologie unversöhnlich gegenüber. Die Kirchenpresse geriet in das Spannungsfeld zwischen nationalsozialistischer Pressepolitik und den Maßnahmen deutsch-christlich dominierter Kirchenbehörden. War die evangelische Pressearbeit vorher noch in Unabhängigkeit von den Weisungen der Kirchenbehörden betrieben worden, so wurde sie ab 1933 entweder zum Instrumentarium der unterschiedlichen Richtungen im Kirchenkampf, oder sie war generellen Repressionen unterworfen. Die seit 1932 einsetzende Publizistik der Deutschen Christen versuchte aus dieser Situation Kapital zu schlagen.

Das Jahr 1933 erwies sich im Zusammenhang mit dem beginnenden ‚Kirchenkampf’ für die evangelische Presse als Schicksalsjahr. Im Zuge der von den NS-Machthabern betriebenen ‚Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens’ war die gesamte evangelische Publizistik einer Gleichschaltungspolitik ausgesetzt, die zahlreiche Zensurmaßnahmen, Beschränkungen und Verbote zur Folge hatte.

Neubeginn nach 1945

Den Nationalsozialisten war es schließlich gelungen, die geschichtlich gewachsenen Strukturen der evangelischen Publizistik so zu zerstören, dass sie nach 1945 von Grund auf neu aufgebaut werden mussten. So stand die evangelische Publizistik nach dem Zweiten Weltkrieg vor einem inhaltlichen und organisatorischen Neubeginn. Die Entwicklung verlief in den beiden deutschen Staaten gegensätzlich: In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) waren der evangelischen Publizistik enge politische und ideologische Grenzen gesetzt. In der Bundesrepublik geschah der Neuaufbau überwiegend in Anlehnung an die verfasste Kirche. Nach 1945 wurde der ‚Propagandadienst’ vom CA nicht wieder aufgenommen. Aber die evangelische Zeitschriftenpresse kirchlicher Vereine und Verbände wurde wieder belebt, wenngleich sie ihre Vielgestaltigkeit und Verbreitung während der Weimarer Republik nicht wieder zu erreichen vermochte. Nach wie vor stellen die Periodika aus dem Bereich der Diakonie einen beachtlichen publizistischen Faktor in der Evangelischen Kirche in Deutschland dar.

Autor: Matthias Pöhlmann

Literatur:

Gottfried Mehnert: Evangelische Presse. Geschichte und Erscheinungsbild von der Reformation bis zur Gegenwart, Bielefeld 1983.

Gerhard Meier-Reutti/Matthias Pöhlmann: Art. Publizistik/Presse III: Evangelische Publizistik und Presse, TRE 27, Berlin/New York 1997, 704-718.

Axel Schwanebeck: Evangelische Kirche und Massenmedien. Eine historische Analyse der Intentionen und Realisationen evangelischer Publizistik, München 1990.

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