Diakonie in der NS-Zeit

Einleitung

Die Zeit des Nationalsozialismus ordnet sich in längerfristige Traditionslinien und Konfliktmuster ein, welche die Geschichte der Inneren Mission bestimmten. Die Angst vor, aber auch der Schutz durch eine engere Verbindung mit der Amtskirche („Verkirchlichung“) auf der einen Seite und die Abhängigkeit von Finanzierungen des Wohlfahrtsstaates, die eine Aushöhlung des missionarischen Hintergrundes bedeutete („Verstaatlichung“), auf der anderen Seite waren diese langfristigen Trends. Durch die NS-Ideologie wurden diese Muster streckenweise überwölbt bzw. noch einmal verschärft.

NS-Machtübernahme und Innere Mission

Im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 geriet auch die Innere Mission in den Sog der Gleichschaltungspolitik. Der vom deutschen Protestantismus zunächst noch allseitig begrüßte Nationalsozialismus hatte Rechristianisierungshoffnungen bei Vertretern der Inneren Mission geweckt, die in der propagandistischen Formel von der „Volksgemeinschaft“ ihren Widerhall zu finden glaubten. Die deutschnationale, antidemokratische Grundüberzeugung, die nur kurzfristig durch einen Vernunftrepublikanismus der Beteiligten überspielt worden war, mündete in Ergebenheitsadressen an die Führung der „nationalen Revolution“.

Von großer Loyalität zum Nationalsozialismus war zum Beispiel der im Frühjahr 1933 gedruckte Verwaltungsbericht 1932/33 der Stiftung Tannenhof geprägt. Er eröffnete mit einem Bild, das Hitler, Goebbels und Prinz August Wilhelm von Preußen beim Besuch des Diakonissenhauses „Luise-Henriettenstift“ im früheren Kloster Lehnin (Mark) zusammen mit Diakonissen zeigte. Anstaltsleiter Pfarrer Paul Werner betonte, dass die Anstalt Tannenhof, die einen eigenen Wahlbezirk bildete, bei den Wahlen „am 5. März zu 97% regierungstreu“ gewählt hätte und hoffte auf den Anbruch einer „gesegneten Zeit für unser geliebtes Vaterland“.

Vorbehalte gegen den sich abzeichnenden totalen Zugriff des NS-Staates auf die Freie Wohlfahrtspflege gab es eher bei konservativen Vertretern der Inneren Mission, sofern eine Kollision mit dem Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens absehbar war. Im Rahmen des bald einsetzenden Kirchenkampfes stand die Innere Mission im Spannungsfeld zwischen bedingungsloser Loyalität zum NS-Staat seitens der „Deutschen Christen“ und Widerstand gegen den ideologischen Absolutheitsanspruch seitens der „Bekennenden Kirche“. Für viele innerhalb der Inneren Mission galt die Formel vom „positiven Christentum“ (§ 24 des NSDAP-Parteiprogramms) lange Zeit als substantiell und keineswegs als Leerformel. Dem linken Flügel der Bekennenden Kirche war die nach beiden Seiten kooperationswillige Innere Mission deshalb immer verdächtig.

Am 26./27. Juni 1933 wurde der Central-Ausschuss für Innere Mission (CA) gleichgeschaltet. Hierbei wurden durch den kurzzeitigen „Kommissar“ für die Evangelische Kirche, Landgerichtsrat August Jäger, auch für den CA zwei kommissarische Leiter, die Pfarrer Horst Schirmacher und Karl Themel, eingesetzt und zugleich alle Direktoren und Abteilungsleiter kurzfristig beurlaubt. Der eher verhaltene Widerstand innerhalb der Inneren Mission entzündete sich mehr an der gewaltsamen Form dieses Vorgehens als an dem damit angestrebten Programm radikaler Verkirchlichung. Hierbei wurde deutlich, dass die empfundenen Gemeinsamkeiten mit dem Nationalsozialismus vielen so bedeutsam erschienen, dass über lange Zeit eine wirksame Opposition gegen den Nationalsozialismus nicht entstand. Dass nun eingeführte „Führerprinzip“ beseitigte zudem in der Sicht mancher Provinzialgeistlicher der Inneren Mission den Einfluss hemmender Gremien. Wenn auch das Kommissariat Themels und Schirmachers, so wie auf kirchlicher Ebene auch, nur eine kurze Episode (bis 18. Juli 1933) war, so meinte man doch, auf die weitere Mitwirkung dieser beiden Deutschen Christen im Vorstand des Central-Ausschusses zumindest aus taktischen Gründen nicht verzichten zu können. Nach einem Abkommen zwischen der Reichskirchenregierung unter „Reichsbischof“ Müller und dem Central-Ausschuss wurde der CA zwar als selbständige Organisation anerkannt, doch eine personelle Verbindung mit der Reichskirchenregierung vereinbart.

Demnach wurden zwei Referenten für Diakonie durch den Reichsbischof ernannt, die gleichzeitig Präsident bzw. „Reichsführer“ und Direktor des CA sein sollten. Themel wurde Präsident und Schirmacher Direktor. Die Selbstgleichschaltung geschah ebenso in Verbänden wie bei der Deutschen Diakonenschaft oder den evangelischen Schwesternschaften. Die anfängliche Begeisterung kühlte sich allerdings seit 1934 merklich ab und wich einer loyalen Distanz zum Nationalsozialismus.

Innere Mission und Kirche

Die Innere Mission verfocht im immer stärker werdenden Kirchenstreit eine Position der Neutralität und vermied es bewusst, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Bereits im Dezember 1933 hatte die Geschäftsführerkonferenz die kirchenpolitische Neutralität der Inneren Mission verkündet. Diese Haltung erschien aus Verantwortung für die Einrichtungen die vorteilhafteste zu sein, da die Klientel der Einrichtungen sowohl aus Gebieten mit Vorherrschaft der Deutschen Christen wie der Bekennenden Kirche kam. Man befürchtete ein Auseinanderbrechen der Gesamtorganisation.

Im Herbst 1934 kam es zur Gründung der „Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände“, die ihren Zweck in der „Wahrung der lebensnotwendigen Grundlage und der ebenso lebensnotwendigen Freiheit der zu ihr gehörenden Verbände und Werke“ sah. Die Gründung war, obwohl ausdrücklich die kirchenpolitische Neutralität betont wurde, gegen eine möglich erscheinende Eingliederung der Inneren Mission in die staatlicherseits angestrebte und von Deutschen Christen dominierte Reichskirche gerichtet und sollte wohl einen organisatorischen Ersatzrahmen bilden, wenn der Central-Ausschuss ausfiel.

Das NS-Regime ließ den gewaltsamen Einigungsversuch auf kirchlicher Ebene aus außenpolitischen Rücksichtnahmen im Herbst 1934 fallen. Die Arbeitsgemeinschaft ging daraufhin in die Offensive und forderte den Rücktritt des aufoktroyierten Präsidenten Themel, der noch im gleichen Jahr seinen Posten räumte. Von Herbst 1935 bis Ende 1937 bemühte sich die Innere Mission um einen engeren Anschluss an die Kirche und stützte die staatliche Politik, mittels Reichs- und Landeskirchenausschüssen die Parteien des Kirchenkampfes an einen Tisch zu bringen. Die Person des von Reichskirchenminister Kerrl zum Leiter des Reichskirchenausschusses berufenen Wilhelm Zoellner erweckte Vertrauen gerade bei der Inneren Mission. Der eigentlich schon im Ruhestand lebende ehemalige westfälische Generalsuperintendent hatte in der Inneren Mission stets mitgearbeitet und stärkte das Gefühl, nunmehr in ein tragfähiges Verhältnis mit der Reichskirche zu kommen.

Eine am 18. April 1936 veröffentlichte Erklärung des Reichskirchenausschusses erkannte dann den Central-Ausschuss als oberstes Organ der Selbstverwaltung der Inneren Mission an und sprach von einer engen Verbindung zwischen dem CA und der Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche. Angesichts der Bedrohungen der Inneren Mission durch die NSV zu Kriegsbeginn begab sie sich durch einen am 2. August 1940 veröffentlichten Erlass der Kirchenkanzlei noch stärker in den Schutz der Amtskirche.

Innere Mission und NSV

In der NS-Zeit besetzten verschiedene NS-Organisationen konkurrierend das Feld der Wohlfahrtspflege. So versuchte neben der Hitlerjugend besonders die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), die vorhandenen konfessionellen Träger mit Hilfe der Partei und willfähriger Provinzial- und Kommunalverwaltungen an den Rand zu drängen. Die ideologische Betonung der „Volkspflege“ und „Menschenführung“ führte dabei zur Konzentration auf die „gesunden“ Fürsorgefälle, wohingegen den konfessionellen Verbänden besonders die Felder der Fürsorge für Kranke, Behinderte und „Erbkranke“ gelassen werden sollten. Regional und lokal stellte sich die Abdrängung konfessioneller Wohlfahrtspflege oft unterschiedlich dar und erfuhr Verzögerungen oder Beschleunigungen aufgrund der personellen Stärke der entsprechenden NS-Organisationen oder auch der politischen Interessen der Fürsorgeverwaltungen. Der an anderer Stelle beschriebene Kindergartenbereich ist nur ein Beispiel von vielen.

Der Versuch der NSV, durch die Gründung einer eigenen „Braunen Schwesternschaft“ die Vorherrschaft konfessionellen Pflegepersonals in öffentlichen wie konfessionellen Fürsorgeeinrichtungen zurückzudrängen, war allerdings zum Scheitern verurteilt. Dennoch existierte im Pflegebereich bereits in der Vorkriegszeit ein wahrgenommener Nachwuchsmangel, der seine Ursachen jedoch nicht entscheidend in der Abwendung von der Religion hatte. Er lag vielmehr begründet in dem allgemeinen demographischen Phänomen der geburtenschwachen Jahrgänge der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Notzeit danach sowie dem Mangel an Arbeitskräften aufgrund der nationalsozialistischen Rüstungskonjunktur.

Letztlich stellten die konfessionellen Wohlfahrtspflegeorganisationen die pflegerische Infrastruktur in der Kriegszeit sicher. Insbesondere das Interesse der Wehrmacht an einem reibungslosen Zugriff auf konfessionelle Schwestern verhinderte zu Kriegsbeginn, dass die NSV ihren Anspruch auf eine Unterstellung der Inneren Mission in diesem Feld realisieren konnte. Die Kirchen standen dabei im Spannungsfeld parteilicher Entkonfessionalisierungsbestrebungen und des infrastrukturellen Sachzwangs im Pflegebereich. Kirchliche Ausbildungseinrichtungen wie zum Beispiel die Diakonissenanstalt in Düsseldorf-Kaiserswerth, die Schwestern für die Versorgung der Wehrmachtslazarette und zahlreiche konfessionelle und kommunale Krankenhäuser stellten, waren unverzichtbar.

Innere Mission im Krieg

Während der Zeit des Zweiten Weltkrieges konnte die Innere Mission sich erfolgreich als Organisation zur Aufrechterhaltung der sozialen Infrastruktur an der Heimatfront bewähren, was ihre Existenz sicherte. Kurz nach Kriegsbeginn gab Otto Ohl, einer der Vizepräsidenten des Central-Ausschusses, einen Bericht über den „Stand der Arbeit der Inneren Mission“ und betonte, dass dieser „im wesentlichen zahlenmäßig der gleiche geblieben“ sei, obwohl man öffentlich nur noch über die Arbeit der NSV, des Winterhilfswerks und des Roten Kreuzes berichte, wohingegen die Arbeit der Inneren Mission verleugnet werde .

Von insgesamt rund 125.000 Schwestern seien nach wie vor 47.000 aus evangelischen und 60.000 aus katholischen Schwesternschaften, wohingegen das Rote Kreuz mit circa 11.000 und die NS-Schwestern mit 7.100 stark abfallen würden. Ähnlich sei dieses Verhältnis auch bei den Bettenzahlen der Einrichtungen der geschlossenen Fürsorge (Krankenanstalten, Heime etc.). Hier waren nach seiner Aussage von 540.000 Betten allein 480.000 in konfessionellen Anstalten.

Dennoch verschärfte sich insbesondere die Personalfrage seit Kriegsbeginn. Es wurden in evangelischen Einrichtungen, insbesondere in landwirtschaftlichen und hauswirtschaftlichen Bereichen (Wäscherei, Küche etc.), rund 12.000 ausländische Arbeitskräfte beschäftigt, seit 1942 überwiegend junge Frauen aus der Sowjetunion („Ostarbeiterinnen“). Das „Dienen unter Zwang“ dieser überwiegend als Zwangsarbeitskräfte anzusprechenden jungen Frauen und Männer wurde erst in jüngster Zeit Thema einer umfangreichen Erforschung und von Wiedergutmachungsbestrebungen in Form von Entschädigungszahlungen und Begegnungsprojekten.

Angesichts der NS-Euthanasie leisteten die Einrichtungen der Inneren Mission partiell Widerstand, doch ordneten sie sich insbesondere in der zweiten Kriegshälfte in die dort verfügten Räumungsverlegungen ein, welche zum Tod Tausender von Patienten auch aus den eigenen Einrichtungen führte. Zuvor hatte man sich seit dem Beginn der 1930er Jahre an der Eugenikdiskussion beteiligt und das nationalsozialistische Zwangssterilisationsgesetz aktiv unterstützt, was zur Sterilisation von mehreren tausend Menschen in evangelischen Einrichtungen geführt hatte.

Gegenüber der nationalsozialistischen Judenpolitik von Ausgrenzung und Diskriminierung fand die Innere Mission keine eindeutige und ablehnende Haltung. Oftmals aus Opportunität, wenn nicht aus Überzeugung, nahm man die diskriminierende Behandlung der Juden hin. Weder die Aprilboykotte 1933 noch die Nürnberger Rassegesetzgebung von 1935 änderten daran etwas. Weder der Schutz von Diakonen noch der von Diakonissen mit jüdischer Herkunft gelang. Patienten jüdischer Herkunft wurden auch aus evangelischen Einrichtungen verdrängt und deportiert.

Der allgegenwärtige Bombenkrieg seit 1942, insbesondere in den Ballungsräumen im Nordwesten Deutschlands, führte zudem zu einer großen Beeinträchtigung. Räumungen, Evakuierungen und Zerstörungen dezimierten die Anzahl der Einrichtungen vor allem im Westen Deutschlands. Bei den Einrichtungen und ihren Trägern verfestigte sich die Erfahrung, angesichts der Entkonfessionalisierungsbestrebungen und der Betroffenheiten durch den Nationalsozialismus und den Krieg selbst Opfer geworden zu sein.

Autor: Uwe Kaminsky

Literatur:

Bookhagen, Rainer, Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus. Mobilmachung der Gemeinden. Bd. 1: 1933 bis 1937, Göttingen u.a.1998. Bd. 2: 1937 bis 1945: Rückzug in den Raum der Kirche, Göttingen u.a. 2002

Gerhardt, Martin, Ein Jahrhundert Innere Mission. Die Geschichte des Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, Bd. 1: Die Wichernzeit, Bd. 2: Hüter und Mehrer des Erbes, Gütersloh 1948

Hammerschmidt, Peter, Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Die NSV und die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus, Opladen 1999

Kaiser, Jochen-Christoph, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914-1945, München 1989

Kaiser, Jochen-Christoph (Hg.), Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie 1939-1945, Stuttgart 2005

Strohm, Theodor/Jörg Thierfelder (Hg.), Diakonie im "Dritten Reich". Neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung, Heidelberg 1990

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