Evangelische Jugendsozialarbeit

Die Integration junger Menschen in die Arbeitswelt war immer das wichtigste Ziel der Jugendsozialarbeit. Deshalb gehören bis in die Gegenwart Berufshilfe, Bildungs- und Beratungsarbeit zu den wesentlichen Aufgaben.

Die Wichernzeit

Die Spuren dieses Arbeitsfeldes lassen sich bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Fürsorge für junge Menschen, die außerhalb ihrer Familien und Heimatorte erwerbstätig waren oder eine Ausbildung machten, gehörte schon früh zu den Aufgabengebieten der Inneren Mission. Viele ortsfremde Handwerksgesellen lebten in der Zeit der Industrialisierung nicht mehr in der Meisterfamilie, sondern hatten als Untermieter höchstens ein Zimmer, manchmal auch nur ein Bett zur Verfügung. Junge Männer und Frauen, die in Fabriken oder Gaststätten arbeiteten, konnten sich ebenfalls nur einfache Wohn- und Schlafgelegenheiten leisten. Als Treffpunkt und Freizeiträume standen nur die Wirtshäuser zur Verfügung. Im Rahmen der Inneren Mission gab es verschiedene Initiativen, die allein stehenden erwerbstätigen Jugendlichen Unterstützung und Begleitung anboten. Evangelische Jünglings- und Jungfrauenvereine setzten sich nicht nur mit dem Glauben auseinander, sondern pflegten auch Geselligkeit und regten zur beruflichen Fortbildung an. Offene Sonntagssäle, die von christlichen Vereinen in den großen Städten gegründet wurden, standen jungen Arbeitern, Handwerksgesellen und Lehrlingen als Freizeiträume zur Verfügung. Schließlich entstanden auch Wohnheime für junge Männer und Frauen, die wegen eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes ihre Heimatorte verlassen hatten. Wichern initiierte bereits 1871 in Berlin einen Frauenverein, der eine Herberge für allein stehende Arbeiterinnen eröffnete. Häuser für berufstätige junge Frauen wurden häufig von Diakonissen geleitet, die nicht nur Unterkunft und Verpflegung bieten wollten, sondern auch Seelsorge und Begleitung auf dem Weg in ein selbstständiges Leben. Dieses Arbeitsfeld, das in der Tradition der Fürsorge für Wanderarbeiter stand, die ihren Beruf an fremden Orten ausüben mussten, gehörte lange zu den kleinen Aufgabengebieten. Die Statistik der Inneren Mission von 1925 wies für das Deutsche Reich rund 400 Wohnheime für Schüler, Studenten, berufstätige Mädchen, Fabrikarbeiterinnen, Lehrlinge und Jungarbeiter aus.

Entwicklungsschub nach dem Zweiten Weltkrieg

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Hilfe für Jugendliche besonders wichtig wurde, gewann die Jugendsozialarbeit als Bindeglied zwischen Jugendpflege und Jugendfürsorge ein eigenes Profil. 1949 wurde in Bremen die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit gegründet mit dem Ziel, für junge Flüchtlinge und Vertriebene sowie Jugendliche, die ihre Angehörigen verloren hatten, Unterkunft, Arbeit und Ausbildung zu schaffen. In den Nachkriegsjahren waren Hunderttausende von Jugendlichen auf sich allein gestellt, ohne Kontakt zu Eltern oder Verwandten und ohne die Möglichkeit, sich eine konkrete Perspektive für ihre Zukunft schaffen zu können. Armut, Heimatlosigkeit und das Fehlen familiärer Bindungen führten dazu, dass die Jugendkriminalität stark anwuchs. Diebstähle von Nahrungsmitteln waren alltäglich und viele Jugendliche lebten vom illegalen Handel mit Schwarzmarktgütern. Allein stehende wohnungslose Mädchen waren besonders gefährdet, in die Prostitution abzugleiten. In der ersten Hälfte der 50er Jahre kam es zu einer ausgeprägten Jugendarbeitslosigkeit, die mit dem Stichwort „Berufsnot“ beschrieben wurde. Die Integration der von dem Krieg und seinen Folgen besonders betroffenen Jugend war ein Problem, das über viele Jahre besondere Erziehungs- und Eingliederungshilfen erforderte.

Nach der Währungsreform entstanden deshalb zahlreiche Jugendwohnheime, deren Angebote sich an verschiedene Zielgruppen richteten. Jugendheimstätten und Jugendgemeinschaftswerke nahmen „streunende“ Jugendliche auf, die wohnungslos und ohne Arbeit waren. Der Aufenthalt in der Jugendheimstätte war vorübergehend und hatte die Eingliederung der jungen Leute in „geordnete Lebensverhältnisse“ zum Ziel. Die Jugendlichen blieben einige Wochen oder Monate in der Einrichtung und waren während dieser Zeit im Gemeinschaftsdienst, der meistens Arbeit im Straßen- und Wegebau oder in den städtischen Grünanlagen bedeutete, tätig. Mit der Vermittlung eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes und einer Wohnmöglichkeit endete in der Regel der Aufenthalt in der Jugendheimstätte. Im Vordergrund stand während dieser Zeit die Berufsberatung, die Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz und einer Unterkunft und für die Flüchtlinge aus dem Osten auch die Beschaffung von Ausweisen, Arbeitspapieren und Zeugnissen. Jeder Jugendliche sollte einen Arbeitsplatz bekommen, der seinen Wünschen entsprach und auch die Möglichkeit haben, mehrere Angebote abzulehnen, bis er etwas gefunden hatte, das ihm zusagte. In vielen Einzelgesprächen versuchten die Betreuer, Neigungen und Begabungen der Jugendlichen herauszufinden, um ihnen einen geeigneten Weg aufzeigen zu können. Die Betreuung in der Jugendheimstätte war eine wichtige Eingliederungshilfe, die den Einstieg in das Arbeitsleben erleichterte, Kontaktmöglichkeiten schuf und damit vor Vereinsamung schützte.

Im Ruhrgebiet, das in den Nachkriegsjahren dringend Arbeitskräfte für den Bergbau suchte, wurden Berglehrlingsheime für Jugendliche gebaut, die eine Ausbildung im Bergbau absolvierten und während ihrer Lehrzeit nicht bei den Eltern leben konnten. Häufig waren diese Lehrlinge jugendliche Flüchtlinge, die mit ihren Familien in den bevölkerungsarmen Bundesländern Bayern, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein gelebt hatten, dort aber keine Ausbildungsmöglichkeiten hatten. Der Wohnheimbau wurde für die Zechengesellschaften als Arbeitgeber eine notwendige Voraussetzung, um genügend Nachwuchs für den expandierenden Bergbau gewinnen zu können. Viele Zechen entschieden sich, ihre Lehrlingsheime nicht in eigener Regie zu führen, sondern die Trägerschaft den christlichen Kirchen zu überlassen. Tausende von Jugendlichen lebten in Einrichtungen, die ihnen Elternhaus und Familie ersetzen mussten und wollten. Das beinhaltete auch eine pädagogische Betreuungsarbeit, für die die Zechen sich nicht zuständig fühlten. Kirche und Diakonie waren hier als erfahrene Träger in der Jugendhilfe angesprochen.

Einige Wohnheime nahmen ausschließlich geflüchtete Oberschüler und Studenten aus dem Osten auf. Die jungen Männer nahmen in Westdeutschland an unterschiedlichen Angeboten teil. Jüngere Oberschüler besuchten Förderkurse, die innerhalb von drei Jahren zum Abitur führten. Abiturienten konnten an Ergänzungslehrgängen zur Anerkennung des Ostabiturs teilnehmen und angehende Studenten überbrückten die Wartezeit bis zum Semesterbeginn an einer westdeutschen Universität mit Arbeit in der Industrie. Die Eingliederung in das westliche Bildungssystem stieß in vielen Fällen auf Schwierigkeiten. Manche Studenten, die im Osten bereits dreiviertel ihres Studiums absolviert hatten, mussten im zweiten Semester neu beginnen. In einzelnen Fällen fanden ostdeutsche Hochschulausbildungen im Westen gar keine Anerkennung. Hier die Wege aufzuzeigen, wie die jungen Männer ihr angestrebtes Ausbildungsziel erreichen konnten, war Aufgabe dieser Einrichtungen.

Weiterentwicklung und Ausblick

In den 60er und 70er Jahren entwickelte die Jugendsozialarbeit besondere Förderangebote für Jugendliche mit verminderten Berufschancen. Zielgruppe waren häufig jugendliche Zuwanderer und Spätaussiedler. Zielperspektive war die Verbesserung der individuellen Integrationschancen in den Arbeitsmarkt, die gelungene Eingliederung in die Berufs- und Arbeitswelt und in die Gesellschaft. In der Gegenwart stellen die Schrumpfung des Arbeitsmarktes und die hohe Arbeitslosigkeit diese Sinnfindung der Jugendsozialarbeit als Brücke zur Arbeitswelt zunehmend infrage. Veränderte Konzepte sehen nicht mehr das dauerhafte Arbeitsverhältnis als oberstes Ziel, sondern setzen auf ein biographisches Unterstützungsmanagement und persönlichkeitsbildende Ziele.

Literatur:

Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugendaufbaudienst (Hg.): Ordnen – Stützen - Befähigen. Eine Darstellung evangelischer Jugendsozialarbeit, Stuttgart 1967.

Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (Hg.): Evangelische Jugendsozialarbeit in Wandel der Zeit. Eine Bundesarbeitsgemeinschaft wird Fünfzig, Münster 1999.

Rolf Hanusch: Haben sich die Ziele der evangelischen Jugendarbeit gewandelt? Eine aktuelle Ortsbestimmung, in: Martin Affolderbach und Rolf Hanusch (Hg.): Was wird aus der Jugendarbeit? Zu den Perspektiven eines kirchlichen Arbeitsfeldes, Stuttgart 1990, 6 ff.

Bärbel Thau: „Jugend ohne Geborgenheit“ – Diakonische Jugendhilfe in der Nachkriegszeit am Beispiel des Evangelischen Johanneswerkes, in: Hans Bachmann und Reinhard van Spankeren (Hg.): Diakonie: Geschichte von unten. Christliche Nächstenliebe und kirchliche Sozialarbeit in Westfalen, Bielefeld 1995, 347-367.

Autorin: Bärbel Thau

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