Eugenik, Zwangssterilisation und "Euthanasie"

Eugenik und Zwangssterilisation

Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufstrebende Wissenschaft der Eugenik, die eine Förderung der guten und Hemmung vermeintlich krankhafter Erbanlagen versprach, fand in der Inneren Mission zunächst keinen Ort. Nur vereinzelte Stimmen aus der Inneren Misison nahmen eugenische Forderungen vor 1930 auf (Paul Erfurth 1919, Heinrich Wichern 1927, Friedrich von Bodelschwingh 1929). Im protestantischen Spektrum verstand man unter Eugenik überwiegend positive, geburtenfördernde Eugenik und beschränkte sich auf die traditionelle Propagierung der Eheberatung und einer die Sittlichkeit stärkenden Volkserziehung. Dies stand im Horizont des volksmissionarischen Wirkens der konservativ-protestantischen Vertreter, deren Kritik an der Gesellschaft der Weimarer Zeit sich auf die „Volksverwahrlosung“ bezog. Statt einer negativen Eugenik mit dem Zwangsmittel der Sterilisation stand die angestrebte Einführung eines Bewahrungsgesetzes auf der politischen Agenda.

Erst die Krise des Weimarer Wohlfahrtsstaates und die sich mehrenden Forderungen im Weimarer Parteienspektrum von Sozialisten, Zentrum, Nationalkonservativen bis Nationalsozialisten nach einem Einbezug der Eugenik in fürsorgepolitische Erwägungen brachten eine Hinwendung zu diesem Themenfeld. Diese Hinwendung war stark mit der Person des Arztes und Volkswirtes Hans Harmsen (1899-1989) verknüpft, der als junger, organisationsbegabter Wissenschaftler über die Beschäftigung mit Eheberatung und Abtreibung zum Thema Eugenik gelangte. Harmsen, der Direktor der Gesundheitsfürsorgeabteilung im Central-Ausschuss für Innere Mission (CA), war der Verantwortliche für die erstmals 1931 tagende „Fachkonferenz für Eugenik“ (seit 1934 „Ständiger Aussschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege“) des CA.

In 13 Sitzungen diskutierten von 1931 bis 1938 insgesamt rund 130 Pfarrer, Ärzte und Fürsorgerinnen der Inneren Mission über die eugenische Gesetzgebung und die Durchführung rassenhygienischer Massnahmen. Sah man anfänglich noch die Einwilligung der Betroffenen oder deren Angehörigen für eine Sterilisation vor, so verschwanden eigene prinzipielle Einwände gegen die vom NS-Staat eingeführte Zwangssterilisation mit der Veröffentlichung des Gesetzes im Juli 1933.

Betroffen waren vor allem Anstalts- und Heimbewohner, die an vermeintlichen Erbkrankheiten („angeborener Schwachsinn“, Schizophrenie etc.) litten. Doch auch Menschen der sogenannten offenen Fürsorge standen in der Gefahr von Ärzten oder Fürsorgerinnen für eine Sterilisation angezeigt zu werden. Bis Ende 1935 kam es an Insassen der Behinderten-, Erziehungs- und psychiatrischen Anstalten der Inneren Mission zu rund 3.000 Unfruchtbarmachungen und in evangelischen Krankenhäusern zur Durchführung von 5.754 Sterilisationsoperationen. Weitere reichsweite Statistiken über Sterilisationen in evangelischen Einrichtungen fehlen.

Das selbstgesteckte Aufgabenfeld sahen die Vertreter der Inneren Mission in der Überredung der Opfer zur Freiwilligkeit der Zwangssterilisation. Ferner schloss die anstrebte „nachgehende Fürsorge“ für Sterilisierte auch die Ehevermittlung ein. Man wandte sich gegen Weiterungen der NS-Erbgesundheitsgesetzgebung wie zum Beispiel Ende 1934 gegen die eugenische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch, ohne freilich Staat und Partei von der rechtlichen Kodifizierung im Sommer 1935 abbringen zu können. Erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges sanken die Zahlen der zu Sterilisierenden erheblich.

NS-Euthanasie – Hinnahme und Widerstand

Von der Eugenik zur nationalsozialistischen Lebensvernichtung existiert keine zwangsläufige Entwicklung. Dennoch hatte das Reden über „Minderwertigkeit“, dem sich auch die evangelischen Anstaltsleiter und Ärzte nicht verschlossen hatten, eine delegitimierende Wirkung für das Lebensrecht vermeintlich Erbkranker besessen. In Verbindung mit der NS-typischen Missachtung der Individualrechte und unter den Kalkülen einer gleichermaßen auf NS-Ideologie wie Rationalisierung aller Lebensbereiche setzenden Kriegswirtschaft startete die NS-Führung zu Kriegsbeginn den Massenmord an Geisteskranken und Behinderten. Im zentralen, auf den 1. September 1939 datierten Ermächtigungsschreiben sprach Hitler schönfärberisch vom „Gnadentod“.

Angesichts der nationalsozialistischen Euthanasie waren die Widerstände verhalten. Gegen die von 1939 bis 1941 laufende „Aktion T4“, der rund 70.000 Anstaltsbewohner in Deutschland zum Opfer fielen, erstellte der Lobetaler Anstaltsleiter und Vizepräsident des Central-Ausschusses, Pfarrer Paul Gerhard, Braune im Sommer 1940 eine zeitgenössisch einzigartig detaillierte Denkschrift, die über die Kirchenleitung der Reichskanzlei zugestellt wurde. Im Rheinland und in Westfalen verweigerten die Anstaltsleitungen die Ausfüllung der Meldebogen, die die Auswahl der zu Tötenden bestimmen sollten und wurden im Gegensatz zu anderen Regionen von Abtransporten ihrer Patienten bis zum Stopp der „Aktion T4“ im Sommer 1941 verschont. In anderen Regionen wie Berlin, Brandenburg, Sachsen, Baden und Württemberg erfolgte die Zusendung der Meldebogen bereits im Oktober 1939, weshalb sie in Unkenntnis ihres Zwecks ausgefüllt wurden. Die Einrichtungen konnten ihre Bewohner nachfolgend nicht mehr vor einem Abtransport in eine Tötungsanstalt schützen. Im Rahmen der „Aktion T4“ ist die Verlegung von mindestens 3.600 Menschen aus evangelischen Einrichtungen überliefert. Die Dunkelziffer ist hoch.

Gegen die Aussonderung und den Abtransport der jüdischen Patienten aus den Einrichtungen der Inneren Mission in den Jahren 1940 bis 1942 erhob sich kaum Widerstand, was genauso in der Tradition des christlichen Antijudaismus wurzelte wie in der Tatsache, dass es sich um eine geringe Anzahl handelte. Die Verlegung von mindestens 68 Menschen aus evangelischen Einrichtungen ist belegbar.

Die katastrophenschutzpolitischen Räumungen angesichts des Bombenkriegs und weitere nationalsozialistische Krankenmordaktionen in den Jahren 1942 bis 1945 führten zu zahlreichen Abtransporten von Bewohnern evangelischer Heil- und Pflegeeinrichtungen, die andernorts überwiegend durch Medikamente, Verhungern und pflegerische Vernachlässigung getötet wurden. Die Anstaltsleitungen (Theologen wie Ärzte) konnten dem nur in Einzelfällen verzögernden Widerstand entgegensetzen. Insgesamt standen die kirchlichen Vertreter in der nationalprotestantischen Tradition der Staatsloyalität, was ihnen insbesondere in der zweiten Kriegshälfte den Schutz der eigenen Patienten erschwerte. Nachweisbar ist der Abtransport von rund 5.000 Anstaltsbewohnern aus evangelischen Einrichtungen.

Fasst man das Verhalten der evangelischen Anstaltsleiter zusammen, so wird die gebrochene Verweigerungshaltung gegenüber der „Euthanasie” deutlich. Der Widerstand gegen die Krankentötungen entsprang keinem Dissens über Kriegsziele, Unterdrückungs- und Ausgrenzungsmechanismen des NS-Staates. Er entzündete sich stärker am in Moral und Sitte verankerten Tötungsverbot und den befürchteten volkssittlichen Folgen seiner Überschreitung. Anfänglich galt eine Information der Verantwortlichen in Staat und Justiz als ausreichender Widerstand im Rahmen der gesamtpolitischen Kooperation mit dem NS-Staat. Als dann zunehmend klar wurde, dass auch der staatliche Bereich federführend beteiligt war, galt als letzte Steigerungsform eines Binnenprotestes die Denkschrift Braunes, die auf die Reichskanzlei als vermeintliche politische Führungszentrale des Dritten Reiches als Adressaten zielte. Zu offenen Protestformen oder der Aufforderung an die evangelischen Anstaltsleiter, die Abtransporte zu boykottieren, konnten sich die Verantwortlichen im Central-Ausschuss für Innere Mission nicht entschließen. Die Wahl solcher Protestformen blieb den einzelnen Anstaltsleitern in ihrer Eigenverantwortung überlassen.

Auf der Ebene von nicht in der Verantwortung für Patienten stehenden evangelischen Repräsentanten gab es dagegen oft kompromisslose Ablehnung und Widerstand gegen die Krankenmorde. Eine der bekanntesten Varianten ist das Verhalten des als Amtsvormund für zahlreiche Geistigbehehinderte und Geisteskranke fungierenden Lothar Kreyssig. Er schrieb Briefe, drohte mit dem Rechtsstaat und wurde schließlich in den Ruhestand versetzt.

Eine andere Variante ging vom Chefarzt der psychiatrischen Abteilung der Anstalt Bethel, Karsten Jaspersen, aus. Jaspersen, erstattete lt. eigener Auskunft sogar Strafanzeige bei der Gestapo und schrieb Briefe an Ärzte, NS-Funktionsträger und andere. Er sprach sich auch mit anderen Ärzten evangelischer Anstalten ab.

Hier gilt die Feststellung Kurt Nowaks, dass das Problem nicht ein „ethisch-moralisches Versagen des Protestantismus an sich, sondern ein kirchlicher Verhaltensstil war, welcher die Eindeutigkeit der ethischen Grundentscheidung in der Praxis nicht durchzuhalten vermochte“. Die größte Eindeutigkeit der Ablehnung fand sich dann dort, wo keine direkte Konfrontation mit den Krankenmorden stattfand und keine institutionelle Verantwortung getragen werden musste. Dies spiegelte sich in den Beratungen und Beschlüssen der Bekenntnissynoden der Evangelischen Kirche der Altpreussischen Union in den Jahren 1940, 1941 und 1943 oder bei Stellungnahmen der „Theologischen Societät“ der Württembergischen Landeskirche unter Pfarrer Hermann Diem sowie bei einzelnen  Predigten von Pastoren, die nicht innerhalb der Inneren Mission tätig waren (zum Beispiel Pfarrer Ernst Wilm aus Mennighüfen). Diese Stellungnahmen waren alle eindeutige und kompromisslose Ablehnungen der Krankenmorde.

Nachgeschichte

Nach dem Kriegsende war das Nachdenken über Eugenik in der Inneren Mission zunächst mit einem Tabu behaftet. Viele sahen den Endpunkt der Eugenik in der „Euthanasie“. Diese wurde wiederum Gegenstand des Nürnberger Ärzteprozesses 1946/47. Die eigene Rolle während der NS-Zeit sahen die Ärzte und anstaltsleitenden Pfarrer weniger in der Mitwirkung bei den Zwangsregelungen zur Sterilisation als vielmehr im „Kampf gegen die Euthanasie“.

Angesichts einer erneut 1951 anhebenden Diskussion über eine gesetzliche Erlaubnis zur freiwilligen Sterilisierung aus erbgesundheitlichen Gründen blieb man reserviert. Doch gab es durchaus Stimmen, die eine Zuwendung zur Eugenik unter familienpolitischen Aspekten befürworteten. In die Entschädigungsgesetzgebung der Jahre 1953 und 1956 wurden die Zwangssterilisierten nicht einbegriffen. Der Präsident der Hauptgeschäftsstelle von Innerer Mission und Hilfswerk, Friedrich Münchmeyer, gab im Oktober 1960 eine jegliche Entschädigung von Zwangssterilisierten ablehnende Stelungnahme gegenüber dem Bundesfinanzministerium ab. Zugleich initiierte er einen neuen Eugenischen Arbeitskreis, der von 1959 bis 1968 tagte und sich intensiv mit der Frage der freiwilligen Sterilisation, der Abtreibung und der Meldepflicht für behinderte Kinder befasste. Erst in den 1980er Jahren wandelte sich die Haltung gegenüber den Opfern der Zwangssterilisation in Kirche und Diakonie grundsätzlich, und es wurde für eine Entschädigung dieser vergessenen Opfergruppe plädiert.

Autor: Uwe Kaminsky

Literatur:

Jenner, Harald/Joachim Klieme (Hg.): Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen und Einrichtungen der Inneren Mission. Eine Übersicht, Reutlingen 1997.

Kaiser, Jochen-Christoph/Kurt Nowak/Michael Schwartz: Eugenik, Sterilisation, "Euthanasie". Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992.

Kaminsky, Uwe: Zwangssterilisation und 'Euthanasie' im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933 bis 1945, Köln 1995.

Kaminsky, Uwe: Zwischen Rassenhygiene und Biotechnologie. Die Fortsetzung der eugenischen Debatte in Diakonie und Kirche, 1945-1969, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 116. 2005, S. 204-241.

Nowak, Kurt: "Euthanasie" und Sterilisierung im "Dritten Reich". Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und der "Euthanasie"-Aktion, Göttingen 1980.

Schwartz, Michael: Protestantismus und Weimarer Eugenik, in: Jochen-Christoph Kaiser/Martin Greschat (Hg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890-1938, Stuttgart u.a. 1996, S. 118-135.

Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung "lebensunwerten Lebens", 1890 – 1945. Göttingen 1987.

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