Das Existenzminimum für alle Menschen transparent und verlässlich sichern

Nach mehr als 15 Jahren „Hartz IV“ ist es Zeit für einen Neuanfang, für eine existenzsichernde Unterstützung der Menschen, die dem Anspruch des „Förderns“ gerecht wird. Das „Hartz-IV-System“ wird von vielen Betroffenen vor allem als Belastung erlebt, als Kontrollinstanz und Entmutigungssystem. Dem setzt die Diakonie Deutschland das Konzept einer Existenzsicherung entgegen, das Ermutigung, Respekt und Förderung in den Mittelpunkt stellt.

Dabei geht die Diakonie Deutschland von den Menschen, ihren Notlagen und Bedürfnissen aus. Menschen wünschen sich Respekt und Anerkennung. Sie erleben soziale Teilhabe und Teilhabe am Erwerbsleben als elementar für ein menschenwürdiges und erfülltes Leben.

Illustration eines Menschen, dessen Oberteil sich auflöst
© Diakonie/Francesco Ciccolella

Dem „Hartz-IV-System“ setzt die Diakonie Deutschland das Konzept einer Existenzsicherung entgegen, das Ermutigung, Respekt und Förderung in den Mittelpunkt stellt.

Es ist an der Zeit, das institutionelle Misstrauen gegenüber den Menschen zu überwinden. Ein Hilfesystem darf nicht den Eindruck erwecken, sein zentrales Ziel sei es, möglichst effektiv vermeintliche Übeltäter*innen zu ermitteln und mit Sanktionen zu belegen. Die Qualität der Existenzsicherung ist daran zu messen, ob sie tatsächlich die Situation der Betroffenen verbessert, sie ermutigt und ein Leben in Würde und mit sozialer Teilhabe ermöglicht.

Das Konzept der Diakonie verbindet passgerechte Hilfe, eine gesicherte Existenz und die Unterstützung der Hilfesuchenden am Arbeitsmarkt. Es ist geprägt durch die gleiche Augenhöhe aller Beteiligten, Wertschätzung, Gleichberechtigung und Kooperation. Seine Bausteine sind:

  1. Eine „Existenzsicherungsstelle“, die für materielle Absicherung sorgt.
  2. Ein „Kompetenzzentrum Arbeit und berufliche Bildung“, das sich auf eine anreizorientierte Arbeitsförderung konzentriert.
  3. Vertrauensbasierte „Personenbezogene Soziale Dienste“, insbesondere eine für alle offene „Allgemeine Sozialberatung“, die die psychosozialen Hilfebedarfe bearbeitet.

Der Neuanfang in der Existenzsicherung ist überfällig. Es müssen sich nicht diejenigen rechtfertigen, die seine Überwindung fordern, sondern die, die keine neuen Schritte gehen.

Die fachlichen Forderungen der Diakonie Deutschland für eine transparente und verlässliche Sicherung des Existenzminimums

„Hartz IV“ ist zum Synonym für eine Form der Existenzsicherung geworden, die von vielen Leistungsberechtigten als Kontroll- und Entmutigungssystem wahrgenommen wird.

2019 und 2020 sammelte die Diakonie Deutschland in einem Beratenden-Hearing mit über 40 Beratungsstellen typische Probleme, die von Betroffenen im Kontakt mit dem Jobcenter gemeldet wurden. Eine Auswahl:

  • Es ist schwer, verlässliche Ansprechpartner*innen für ein Anliegen zu finden.

  • Eingereichte Dokumente erreichen nicht verlässlich die richtige Ansprechperson.

  • Eingangsbestätigungen für Dokumente und Schreiben fehlen.

  • Das Antragsverfahren wird von Leistungsberechtigten nicht verstanden.

  • Spontane Auskünfte am Jobcenter-Empfang sind widersprüchlich.

  • Anträge werden oft nach Überfliegen der Unterlagen nicht entgegengenommen.

  • Die Jobcenter können einseitig sanktionsbewehrte Vorgaben machen.

  • Das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen spielt kaum eine Rolle.

  • Nachberechnungen werden nicht verstanden.

  • Zuverdienst führt zu ständigen Hin- und Rückrechnungen.

  • Sprach- und Verständnisprobleme werden nicht immer zuverlässig gelöst.

  • Ob besondere Zielgruppen wie Schwangere, Alleinerziehende, Geflüchtete oder Menschen mit Behinderung passende Angebote und Verständnis vorfinden, hängt vom Jobcenter und den Zuständigen vor Ort ab.

Die Disziplinierung der Leistungsberechtigten hat gesetzlich Vorrang gegenüber ihren Bedürfnissen und Problemen. Eine Beraterin schildert ihre Erfahrungen: „Eine Eingliederungs-vereinbarung „auf gleicher Augenhöhe“ ist durchgehend nicht der Fall. Die Einflussmöglichkeiten der Klienten zur Änderung der Eingliederungsvereinbarung sind in der Regel minimal bis nicht vorhanden; stattdessen wird vom Vermittler bei Änderungswünschen oftmals ein Eingliederungs-Verwaltungs-akt erlassen. Die Eingliederungsvereinbarung verteilt die Pflichten einseitig: Verbindliche Aktivitäten werden in der Regel nur vom Klienten erwartet.“

Die Jobcenter arbeiten in einer Dilemma-Situation. Einerseits sollen sie das Existenzminimum der Betroffenen gewährleisten und ihre Situation verbessern. Andererseits sind sie zu einer Art des Verwaltungshandelns gezwungen, das, etwa durch Sanktionen, immer wieder Vertrauen zerstört und aus Sicht der Sozialen Arbeit fachlich nicht hilfreich ist.

Die Sicherung der Existenz ist eine Kernaufgabe des Sozialstaates. Soziale Rechte sind Bestandteil internationaler Vereinbarungen, der Erklärungen der Vereinten Nationen zu Menschenrechten und des Grundgesetzes. Das „Hartz-IV-System“ ist rechtlich in seinen Widersprüchen zwischen Hilfe und Kontrolle gefangen. Es muss durch eine verlässliche Form der Existenzsicherung ersetzt werden, die Ermutigung und Respekt ins Zentrum der Hilfen stellt.

Die Diakonie Deutschland schlägt vor, die kontraproduktive Verschränkung der Handlungslogiken von materieller Hilfe, Arbeitsförderung und Sozialberatung zu überwinden. Bedürftigkeit muss unabhängig von Wohlverhalten ernst genommen werden. Arbeitsförderung braucht Ermutigung und Kompetenzförderung. Soziale Beratung muss sich an den Problemen, Fähigkeiten und Kompetenzen der Betroffenen orientieren und mit ihnen gemeinsam nach Lösungen suchen.

Darum schlägt die Diakonie Deutschland ein dreigliedriges System der Existenzsicherung vor:

  1. Eine „Existenzsicherungsstelle“, die für materielle Absicherung sorgt.

  2. Ein „Kompetenzzentrum Arbeit und berufliche Bildung“ (KABB), das sich auf eine anreizorientierte Arbeitsförderung konzentriert.

  3. Vertrauensbasierte „Personenbezogene Soziale Dienste“ (PSD), insbesondere eine für alle offene „Allgemeine Sozialberatung“ (ASB), die die psychosozialen Hilfebedarfe bearbeitet.

Eine solche Neukonzeptionierung der Existenzsicherung ist dringend nötig, weil unterschiedliche Hilfeformen unterschiedlichen Handlungslogiken folgen. Insbesondere die Vermischung von Cash- und Care-Leistungen muss überwunden werden. Cash-Leistungen umfassen die Bewilligung von Geldleistungen. Sie sind Ergebnis einer formalisierten und unpersönlichen Ermittlung von Anspruchsvoraussetzungen. Care-Leistungen umfassen nicht-materielle Unterstützungsleistungen. Sie funktionieren auf Basis einer persönlichen, vertraulichen, individuell passgenauen Hilfe. Diese setzt auf Freiwilligkeit und Eigenmotivation, ist ergebnisoffenen und verständigungsorientiert.

Eine Vermischung dieser unterschiedlichen Handlungslogiken verzerrt die Interaktionen mit den Betroffenen, schafft Missverständnisse, behindert den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen und schürt Misstrauen. Der für eine wirksame und nachhaltige Beratung wichtigste Wirkfaktor „Vertrauen“ wird untergraben. In der Folge ist die Zielerreichung im Hilfesystem wenig effektiv und effizient. So löst die „Hartz-IV“-Existenzsicherung bei vielen Menschen Unverständnis, Angst, Kränkung, Ohnmacht, Depression und Apathie aus, was mitunter zum Kontaktabbruch gegenüber dem Jobcenter führt.

Deshalb sieht die Alternative der Diakonie Deutschland zu „Hartz IV“ eine getrennte Erbringung der Hilfen entlang der drei Hilfebedarfe vor. Erst dann kann von bedarfsgerechten Hilfen gesprochen werden, die mehr Wirksamkeit und Nachhaltigkeit ins Hilfesystem bringen. Dabei ist eine wirkungssensible Schnittstellengestaltung zwischen den drei Formen der existenzsichernden Hilfe nötig. Jede Hilfe soll auch ein Tor zu beiden anderen Hilfeformen sein, bei jeder Hilfe auch über andere Hilfemöglichkeiten informiert werden; jede Hilfeform aber in ihrer eigenen Logik erfolgen und anderen Hilfeformen keine ihnen fremde Sachlogik überstülpen können.

Ein transparentes, sach- und realitätsgerechtes Existenzminimum

Maßgeblich für die Existenzsicherung von Hilfesuchenden ist ihr materieller Bedarf, der unabhängig davon besteht, ob Menschen in anderen Handlungsbereichen Vorgaben erfüllen.

Was Menschen zum Leben brauchen, muss methodisch sauber ermittelt werden. Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass die Ermittlung des Existenzminimums transparent, sachgerecht und realitätsgerecht erfolgen muss.

Dies ist durch die bisherige Form der Regelsatzermittlung nicht der Fall. Zwar werden mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe Daten über die Ausgaben einer statistischen Vergleichsgruppe mit niedrigem Einkommen erhoben. Hierbei kommt es aber zu Zirkelschlüssen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Sozialleistungsbeziehende oder –berechtigte selbst Teil der Vergleichsgruppe sind, deren Lebensstandard wiederum Maßstab für die Höhe von Sozialleistungen sein soll.

Auch kommt es nach Ermittlung der statistischen Daten zu willkürlich erscheinenden Abzügen. Weihnachtsbaum, Speiseeis, Streamingdienste, Kinderzeitschriften oder Meerschweinchenfutter sind Beispiele für Streichungen im großen Umfang, die sich auf bis zu 160 Euro Abzüge an den Regelsätzen summieren.

Die Diakonie Deutschland hat mit der Verteilungsforscherin Dr. Irene Becker ein alternatives Modell der Regelsatzermittlung entwickelt. Demnach soll das Existenzminimum für grundlegende Konsumbereiche wie Nahrungsmittel nicht mehr als 25 Prozent, die weiteren Ausgaben um nicht mehr als 40 Prozent hinter dem zurückbleiben, was die gesellschaftliche Mitte ausgibt.

Die Regelsatzermittlung muss zwei Prinzipien folgen:

  1. Ermittlung einer statistischen Vergleichsgruppe mit mittleren Einkommen.

  2. Ermittlung einer statistischen Vergleichsgruppe mit unteren Einkommen – ohne Zirkelschlüsse und mit einer sicheren „Haltelinie“ nach unten, die nicht unterschritten werden darf.

Das Existenzminimum einfach und unbürokratisch gewährleisten

Das so ermittelte Existenzminimum soll durch eine „Existenzsicherungsstelle“ einfach und unbürokratisch gewährt werden. Maßstab dafür, ob jemand Hilfe erhält, ist allein die Bedürftigkeit.

Menschen im Erwerbsalter erhalten eine Grundsicherungsleistung, die ihr Existenzminimum ohne Sanktionen gewährleistet. Personen, die im jetzigen System Erwerbseinkommen mit Grundsicherungsleistungen aufstocken, erhalten die Möglichkeit, sich anstelle einer komplizierten Anspruchsermittlung mit möglichen Hin- und Rückrechnungen für das Modell der Sozialdividende zu entscheiden.

Bei der Sozialdividende wird zu Monatsanfang ein Existenzgeld zuverlässig und in immer gleicher Höhe gezahlt. Voraussetzung: Die Leistungsberechtigen stimmen einer Einstufung in eine neue Steuerklasse 7 zu. In der Steuerklasse 7 sind die Ansprüche auf Freibeträge mit dem zu Monatsanfang gezahlten Existenzgeld abgegolten. Einkommen wird dagegen relativ hoch besteuert.

Neben das verlässliche Existenzgeld können weitere Einkünfte treten, die entsprechend der gewählten Steuerklasse 7 progressiv ansteigend mit 65 bis 79 Prozent ab dem ersten Euro nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge besteuert werden. Dieser relativ hohe Steuersatz bleibt in seinen Auswirkungen aber weit hinter den Folgen der Einkommensanrechnung zurück, die derzeit in der Grundsicherung Standard ist. Das Modell der Sozialdividende bietet den wesentlichen Vorteil, dass keine Hin- und Rückrechnungen bei der Gewährleistung des Existenzminimums nötig sind.

Der Steuertarif steigt zudem so an, dass bei einem Einkommen von 1.400 Euro nach Sozialabgaben das Nettoeinkommen von Empfänger*innen der Sozialdividende genauso hoch ist wie das von Personen, die herkömmlich besteuert werden. Setzt sich dieser Effekt über mehrere Monate fort und erzielen die Betroffenen dauerhaft einen Betrag von 1.400 Euro Einkommen, benachrichtigt sie das Finanzamt, dass ein Wechsel in den normalen Steuertarif nun günstiger wäre.

Ergänzend zu den genannten pauschalen Leistungen bleibt die Möglichkeit erhalten, für größere Anschaffungen oder in besonderen Notlagen zusätzliche finanzielle Hilfen zu beantragen – etwa für die Anschaffung von Waschmaschine oder Kühlschrank, die Klassenfahrt, eine digitale Mindestausstattung oder medizinische Sonderbedarfe.

Existenzsicherung: Erfahrungen sammeln und bewerten

Die Diakonie Deutschland schlägt vor, die Effekte und die Wirkung der neuen Existenzsicherung zunächst auf freiwilliger Basis zu erproben. Leistungsberechtigte können sich entscheiden, ob sie das neue Modell der Existenzsicherung wählen oder aber im bisherigen System der Grundsicherung bleiben. Leistungsberechtigte, die die Sozialdividende wählen, erhalten zum Monatsersten ein pauschales Existenzgeld von insgesamt 1.100 Euro. Dieses setzt sich zusammen aus 600 Euro, die dem von der Diakonie Deutschland errechneten Regelsatz entsprechen und einem Wohngeld von 500 Euro. Die Leistungsberechtigten können sich entscheiden, nur dieses Existenzgeld – und keine weiteren Grundsicherungsleistungen wie besondere persönliche Bedarfe, Anschaffungskosten oder Wohngeld - in Anspruch zu nehmen. Wenn sie weitere ergänzende Hilfen beantragen sollten, erfolgt eine Bedarfsprüfung. Nach drei Jahren Modellversuch soll bundesweit wissenschaftlich Bilanz gezogen werden.

Das Rechenmodell, nach dem die Diakonie bei der Sozialdividende arbeitet, ist im PDF-Dokument (Seite 6) dargestellt.

Die Kosten für die vollständige Umsetzung dieses Modells betragen rund 80 Mrd. Euro jährlich, wenn alle Berechtigten in die Sozialdividende einbezogen werden. Der Betrag von 80 Mrd. Euro deckt die derzeitigen Grundsicherungskosten für Erwachsene in Höhe von 18 Mrd. Euro bereits mit ab. Somit entstehen Nettokosten in Höhe von 61,2 Mrd. Euro jährlich. Diese Kosten ergeben sich zum einen durch den Einbezug der derzeit 4 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB II. Zum anderen weitet die Diakonie den Kreis der Leistungsberechtigten durch die von ihr vorgeschlagene Erhöhung des Existenzminimums um rund 2 Millionen Personen aus. Weitere Kosten entstehen durch die im Rahmen der Sozialdividende verminderte Einkommensanrechnung, die Anreize zur Arbeitsaufnahme setzt. Die Kosten können zum Teil durch höhere Steuereinnahmen als Folge des erhöhten Steuersatzes für Einkommen im Rahmen der Sozialdividende aufgefangen werden.

Die Kosten für die projekthafte Erprobung des Modells beispielsweise bei Personen, die derzeit Erwerbseinkommen mit Grundsicherungsleistungen  aufstocken (1 Mio. Menschen), lägen bei rund 10 Mrd. Euro jährlich. Würden diese Arbeitnehmer*innen durchschnittlich 300 Euro im Monat hinzuverdienen, erzielte der Staat Steuermehreinnahmen in Höhe von 2,5 Mrd. Euro als Gegenfinanzierung durch den erhöhten Steuersatz im Rahmen der Sozialdividende.

Um Leistungsberechtigte wirksam in Bezug auf ihre berufliche Zukunft beraten und fördern zu können, fehlen im bestehenden SGB-II-System wichtige Rahmenbedingungen. Die Grundprinzipien guter und wirksamer Beratung sind nicht nur im Kontext eines Beratungszwanges verletzt, sondern auch durch eine Steuerung, die die Komplexität der erwerbsarbeitsbezogenen Beratung und Förderung massiv reduziert und sich maßgeblich an quantitativ messbaren Zahlen - statt hoher Qualität in multidimensionaler Weise - ausrichtet. Es gilt, die Rahmenbedingungen für erwerbsarbeitsbezogene Beratung und Förderung so zu gestalten, dass sie einen wirksamen Beratungs- und Förderprozess und im Ergebnis die nachhaltige Erwerbsintegration und Teilhabe am Arbeitsmarkt bestmöglich unterstützen. Dafür braucht es einen Systemwechsel.

Eine neue Struktur der Arbeitsförderung schaffen

Arbeitsmarktbezogene Beratung, Unterstützung und Förderung rund um Erwerbsarbeit ist durch eine flächendeckende, sozialräumlich verankerte Struktur von neu zu schaffenden „Kompetenzzentren Arbeit und berufliche Bildung“ (KABB) zu leisten, die als zentrale Anlaufstelle dienen.

Jede*r kann dort freiwillig und kostenlos erwerbsarbeitsbezogene Beratung in Anspruch nehmen. Dabei soll die Beratung und Förderung auf die Befähigung, Selbstbestimmung und Emanzipation der Ratsuchenden zielen. Die Hilfen zur Eingliederung in Arbeit sollten mit dem Ziel einer nachhaltigen, den Qualifikationen und Wünschen der Ratsuchenden entsprechenden Integration in Erwerbsarbeit erbracht werden. Auch sollen die Hilfen die Teilhabe am Arbeitsmarkt durch öffentlich geförderte Angebote ermöglichen. Entsprechend der individuellen Ausgangslage und Wünsche erfordert dies gegebenenfalls auch längerfristige, mehrjährige Förderstrategien. Strategien und Instrumente der erwerbsarbeitsbezogenen Hilfen sind entsprechend der heterogenen Zielgruppe vielfältig und flexibel zu gestalten.

Zielgruppe der KABB sind Erwerbslose, Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt, Arbeitnehmer*innen, die sich beruflich weiterentwickeln wollen oder müssen, Selbstständige, junge Menschen beim Übergang von Schule/Studium in Ausbildung/Beruf, aber auch Arbeitgeber*innen.

Die Vision ist eine Behörde, die ohne Brüche (etwa durch Rechtskreiswechsel SGB II/III) für alle Ratsuchenden zuständig ist und ein Angebot ohne Stigmatisierung darstellt.

Aufgaben der KABB sind Stellenvermittlung, Entwicklung und Beauftragung von weiteren Hilfen zur intensiven Beratung, Qualifizierung, Weiterbildung, sowie die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit oder Beschäftigungssituation.

Die Fokussierung auf das Thema Erwerbsarbeit bedeutet jedoch nicht, in der Beratung psychologische Aspekte aus dem Blick zu verlieren. Eine begleitende sozialpädagogische Unterstützung im Hilfeprozess kann notwendig sein, auch wenn die Kernkompetenz der KABB im Bereich Arbeitsmarkt und Erwerbsarbeit liegt.

Wenn eine direkte Beschäftigungsaufnahme für Menschen in ihrer Lebenssituation zunächst nicht möglich oder erwünscht ist, beispielsweise wegen einer krisenhaften Lebenssituation oder gesundheitlichen Einschränkungen, dann sind diese Menschen zunächst in anderen spezialisierten Hilfebereichen zu unterstützen. Das zuständige KABB ist der Ansprechpartner, wenn Erwerbsarbeit wieder möglich ist. Deshalb ist es wichtig, dass die KABB sich vor Ort mit allen relevanten Akteuren des Arbeitsmarktes und den personenbezogenen sozialen Diensten vernetzen.

Beratung und Förderung im KABB sollen von den Ratsuchenden als Angebot und Chance erfahren werden, die persönliche Situation anknüpfend an die eigenen Kompetenzen zu verbessern und eine positive Zukunftsperspektive zu gewinnen. Der Beratungsprozess soll so ausgestaltet sein, dass individuelle Ziele in kleinen Schritten gemeinsam entwickelt werden, Angst vor Misserfolg vermindert wird und passgenaue Fördermöglichkeiten angeboten werden können. Eine wirksame Beratung braucht Zeit: für das Beratungsgespräch mit den Ratsuchenden, für die Entwicklung von Hilfeplänen, für Supervision und Weiterbildung sowie für die Pflege von Netzwerken vor Ort, um Unterstützung Hand in Hand mit anderen Akteur*innen erbringen zu können.

Arbeitsmarktpolitische Förderinstrumente neugestalten

Beratung und Förderung, die dem Einzelfall gerecht werden will, muss auf eine breit gefächerte und qualitativ hochwertige Förderlandschaft ‒ von niedrigschwelligen beschäftigungsorientierten Angeboten bis hin zu abschlussbezogenen Weiterbildungen ‒ zurückgreifen können. Bei der Gestaltung der Förderlandschaft brauchen Leistungsträger und Leistungserbringer Handlungsspielräume, um auf die zu fördernden Personen sowie regionale Gegebenheiten adäquat eingehen zu können.

  • Ein auf Freiwilligkeit basierendes System braucht Anreize. Ein wesentlicher Anreiz zur Aufnahme oder Ausweitung einer Erwerbstätigkeit ist eine finanzielle Besserstellung. Die Diakonie schlägt vor, die bisher geltenden Anrechnungsregelungen für Einkommen in der Grundsicherung durch ein neues Modell der Einkommensanrechnung zu ersetzen. Dieses soll die Anreize zur (Ausweitung der) Erwerbstätigkeit stärken. Vor allem bei längerfristigen Integrationsstrategien und Fördermaßnahmen sind punktuelle finanzielle Anreize wie Prämien, monatliche Zuschüsse oder Mehraufwandsentschädigungen sinnvoll.

  • Eine wesentliche Voraussetzung für passgenaue und qualitativ hochwertige Förderangebote ist die Flexibilisierung der Vergabepraxis. Das Vergaberecht ermöglicht es ausdrücklich, innovative Leistungsansätze zu fördern und verschiedene Vergabeverfahren anzuwenden. Diese Offenheit braucht es bei der Beschaffung von Arbeitsmarktdienstleistungen. Insgesamt sind die Aspekte Qualität, Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Maßnahmen bei der Prüfung der Wirtschaftlichkeit stärker zu berücksichtigen.

  • Für einen Teil von Personen, die über einen langen Zeitraum ohne stabile Erwerbsarbeit sind, braucht es öffentlich geförderte Beschäftigung und einen sozialen Arbeitsmarkt, der regelhaft und längerfristig Kompetenzen stärkt und eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt bietet. Insofern leistet das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ nach § 16i SGB II einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation und Perspektive dieser Personen. Dieses sinnvolle, jedoch bis 2025 befristete Förderinstrument sollte gesetzlich entfristet und seine Finanzierung über den Passiv-Aktiv-Transfer sowie über Bundesmittel sichergestellt werden.

  • Um Erwerbslose und gering Qualifizierte stärker in die berufsabschlussbezogene Weiterbildung einzubeziehen, sollten häufiger modulare Qualifizierungen angeboten werden. Wichtig ist die Möglichkeit, Weiterbildungsangebote mit flankierenden Förderelementen zu verknüpfen, wie Deutschsprachförderung oder sozialpädagogische Begleitung. Letztere bietet in schwierigen Phasen Unterstützung und kann helfen, Abbrüche zu vermeiden. Angebote sollen an die Lebensumstände der Menschen angepasst sein.

  • Die Diakonie plädiert dafür, im SGB II die Voraussetzungen für den Aufbau von Sozialunternehmen nach dem Vorbild der Inklusionsbetriebe gem. § 215 SGB IX zu schaffen, damit ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene, langzeiterwerbslose Personen Beschäftigungsperspektiven erhalten.

  • Das Jahr 2020 hat deutlich gezeigt: Digitale Zugänge stehen vielen Leistungsberechtigten im SGB II nicht offen, ihnen fehlt die notwendige Ausstattung mit Hardware, Software und schnellem Internet. Großen Bedarf an digitaler Ausstattung haben auch Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen sowie (Weiterbildungs-) Träger der Arbeitsförderung. Zudem müssen digitale Lehr- und Lernkonzepte entwickelt und Mitarbeitende qualifiziert werden. Damit Adressat*innen von arbeitsmarkpolitischen Angeboten von den Möglichkeiten der Digitalisierung profitieren können, müssen entsprechende Voraussetzungen sowohl bei ihnen als auch bei Anbietern geschaffen werden. Zu den Voraussetzungen könnte auch ein freier Zugang zum Internet durch Hot Spots in Kommunen gehören, oder Förderprogramme, die auf einzelne Nutzer*innen sowie Träger zielen. Bildungsunterschiede dürfen nicht verstärkt und benachteiligte Zielgruppen in der beruflichen Bildung und Weiterbildung nicht weiter abgehängt werden.

Sozialarbeiterische Hilfen zur Bewältigung des psychosozialen Hilfebedarfs müssen für alle Menschen offenstehen und erreichbar sein. Diese grundlegenden Hilfen sind daher als unverzichtbare Elemente staatlicher Daseinsvorsorge und als Pflichtaufgabe einzustufen.

In der Regel werden diese Hilfen von „Personenbezogenen Sozialen Diensten“ (PSD), überwiegend in Form von Beratung erbracht. Dazu zählen beispielsweise Sozialberatung, Suchtberatung, Schuldnerberatung, Telefonseelsorge, Migrationsberatung, Erziehungsberatung oder Familienberatung. Personenbezogene Soziale Dienste sind konzeptionell nach wissenschaftlich belegten Wirkfaktoren zu gestalten. Wirkfaktoren sind insbesondere Vertrauen, Verständigungsorientierung, Ressourcenförderung, Kontextstabilisierung und Netzwerkorientierung.

Um wirksam und nachhaltig zu helfen, müssen sozialarbeiterische bzw. beraterische Grundprinzipien wie Autonomie und Freiwilligkeit der Ratsuchenden, Ergebnisoffenheit des Hilfeprozesses, individuelle Passgenauigkeit der Hilfen, Hilfeprozess als Koproduktion und Verschwiegenheit unbedingt garantiert sein. Alle Menschen sind beim Zugang zu diesen so konzeptionierten personenbezogenen sozialen Hilfen gleichberechtigt. Niemand wird bevorzugt beraten, alle haben die gleichen Anspruchsrechte auf die Hilfen. Die Entscheidung wer, wann und wie beraten wird, liegt allein in der Kompetenz der Mitarbeitenden bei den Personenbezogenen Sozialen Diensten.

Individuelle und passgenaue Hilfen verwirklichen

Die selbstbestimmte Entscheidung von Menschen für oder gegen eine Inanspruchnahme von Personenbezogenen Sozialen Diensten setzt institutionell-konzeptionelle Vorkehrungen in der Hilfestruktur voraus, damit Menschen ihre individuell passgenaue Hilfe tatsächlich finden:

  • Informations- und Beratungspflicht: Gesetzlich ist eine Informations- und Beratungspflicht der „Existenzsicherungsstellen“, der KABB und der PSD über das Hilfsangebot der jeweils anderen Institution gegenüber den Ratsuchenden festzuschreiben.

  • „Allgemeine Sozialberatung“ (ASB): Ein basaler sozialarbeiterischer Dienst mit der Bezeichnung „Allgemeine Sozialberatung“ ist flächendeckend zu implementieren. Alle Menschen können diesen Dienst als Erstanlaufstelle für psychosoziale Fragen und Probleme nutzen. Diese Funktion als Erstanlaufstelle muss gesellschaftlich und sozialstaatlich aktiv beworben und bekannt gemacht werden.

  • Hilfekoordinierung: Innerhalb der Personenbezogenen Sozialen Dienste erhält die „Allgemeine Sozialberatung“ eine koordinierende Funktion bei der Hilfegestaltung. Sie klärt die Art des Hilfebedarfes von Ratsuchenden (Clearingfunktion). Sie legt die Richtung zur Bearbeitung des Hilfebedarfes fest (Weichenstellungsfunktion). Sie vermittelt (und begleitet, wenn notwendig) an andere Personenbezogene Soziale Dienste (Vermittlungsfunktion). Sie klärt im kollegialen Austausch, welche Institution und welche Fachkraft sinnvollerweise die Gesamtverantwortung für den „Fall“ übernimmt (Fallkoordinierungsfunktion). Schließlich hat sie in den Fällen von Hilfeabbruch oder Kommunikationsproblemen eine Verantwortung, die Ratsuchenden im Hilfesystem zu halten und neue Hilfsarrangements zu treffen (Auffangfunktion). Das alles geschieht immer in Absprache mit den betroffenen Menschen und den Fachkräften in den PSD.

Die Personenbezogenen Sozialen Dienste erbringen ihre Hilfen „aus einer Hand“. Das wird durch die starke koordinierende Funktion der „Allgemeinen Sozialberatung“ sichergestellt. Die Hilfe „aus einer Hand“ ist hier möglich, weil alle Personenbezogenen Sozialen Dienste der gleichen Handlungslogik folgen und es nicht zu einer Hybridisierung mit ihren negativen Folgen für das Hilfepotenzial kommen kann. Im Gegenteil ist durch die stringente institutionell-konzeptionelle Ausrichtung dieser Hilfestruktur mit starken Synergieeffekten zu rechnen.

„Personenbezogene Soziale Dienste“ unabhängig und vertrauensbasiert gestalten

Bei der Gestaltung der PSD sind folgende Rahmenbedingungen zu beachten:

  • Implementierung: Personenbezogene Soziale Dienste müssen im Sozialraum quantitativ wie qualitativ bedarfsgerecht eingerichtet werden. Eine gute räumliche Erreichbarkeit insbesondere der „Allgemeinen Sozialberatung“ kann durch einen Mix aus zentraler (Gemeinwesenzentren, Mehrfamilienhäuser etc.) und dezentraler Anordnung der Dienste erreicht werden. Um das Wunsch- und Wahlrecht zu stärken, ist auf eine plurale Angebotsstruktur zu achten. Wichtig ist es, möglichst anonyme Zugänge zu den Diensten zu ermöglichen. Dazu zählt auch die Etablierung digitaler Wege zur Kontaktaufnahme.

  • Trägerschaft: Als Träger für die PSD kommt nur in Frage, wer oben genannte Wirkfaktoren und Handlungsprinzipien realisieren kann. Die Hilfe beziehungsweise Beratung muss unabhängig und vertrauensbasiert erbracht werden (können). Auf keinen Fall dürfen die Dienste mit administrativ-behördlichen Imperativen in Verbindung gebracht werden. Hoheitliche Befugnisse, Kontrollfunktionen, hoher organisationaler Formalisierungsgrad, Standardisierungen und so fort dürfen keinen Einzug in Personenbezogene Soziale Dienste haben.

  • Steuerung: Die Personenbezogenen Sozialen Dienste sollen möglichst passgenaue, auf den Einzelfall zugeschnittene Hilfen anbieten und koordinieren. Das gelingt nur, wenn die Arbeit nicht von „fallfremden“ Interessen Dritter beeinflusst wird (z.B. organisationale Zielvorgaben, Interessen finanzieller Art etc.). Zentrales Steuerungsmedium für die Arbeit der Dienste ist die sozialarbeiterische Fachlichkeit (Autonomie der Sozialen Arbeit). Das fachliche Handeln wird von den Dienststellenleitungen im Rahmen ihrer Fachaufsicht überwacht.

  • Finanzierung: Die PSD müssen als unverzichtbares Element staatlicher Daseinsvorsorge und unter Wahrung der fachlich-konzeptionellen Unabhängigkeit der Dienste aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Über eine pauschale Stellenfinanzierung ist eine hohe Flexibilität des Handelns und des Methodeneinsatzes möglich. Diese Flexibilität ist notwendig, um auf individuelle, situative, sozialräumliche und sozialpolitische Gegebenheiten zeitnah und angemessen reagieren zu können. Die Personalstärke der Dienste sollte zunächst nach einem personellen Generalschlüssel bezogen auf die Einwohnerzahl in Sozialräumen bemessen werden. Es sollten aber Abweichungen von diesem Personalschlüssel entsprechend des Hilfebedarfes in den Sozialräumen möglich sein.

  • Rechtliche Grundlagen: Als rechtliche Grundlage ist für die Arbeit der Personenbezogenen Sozialen Dienste perspektivisch lediglich ein Rahmengesetz zu schaffen. Auf kleinteilige sozialrechtliche Vorgaben sollte mit Blick auf die notwendige Flexibilität und zur Stärkung der Autonomie der Sozialen Arbeit verzichtet werden.

Video-Rückblick auf den Diakonie-Wahltalk #mitreden zum Grundeinkommen

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Der Wahltalk der Diakonie Deutschland hat am 10.08. stattgefunden mit Katja Kipping, Die Linke, Pascal Kober, FDP, Marc Hentschke, Efas, und Anne Katrin Koch, Geschäftsführerin Netz-Werk e.V. Mittweida.

Ansprechpartner

© Hermann Bredehorst

Matthias Bruckdorfer

Allgemeine Sozialarbeit der Diakonie, Schuldnerberatung

030 65211-1651

[email protected]
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Michael David

Referatsleitung Soziales

030 65211-1636

[email protected]
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Lars Schäfer

Wohnungsnotfall- und Straffälligenhilfe

030 65211-1816

[email protected]