Das 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert war durch umfassende gesellschaftliche Veränderungen geprägt. Da übergreifende staatliche oder gesellschaftliche Strukturen noch fehlten beziehungsweise die vorhandenen auf die neu entstehenden Nöte nur bedingt reagierten, mussten notgedrungen die kleineren sozialen Gemeinschaften, etwa die Kommunen, verstärkt Verantwortung für die neuen gesellschaftlichen Aufgaben übernehmen. Zahlreiche Städte hatten sich zumeist um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert neue Armenordnungen gegeben, die jedoch angesichts der gewaltigen Veränderungen zu kurz griffen.

Etwa zur gleichen Zeit hatten sich zum Beispiel im Gefolge der Herrnhuter Brüdergemeine oder der Basler Christentumsgesellschaft auch länderübergreifend christliche Netzwerke im Rahmen der Erweckungsbewegung gebildet. Sie reagierten relativ rasch auf eines der ersten Indizien der tiefgreifenden sozialen Veränderungen: die Zunahme der Straßenkinder. Ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen, war für viele christliche Initiativen ein erster Auslöser, in einer neuen Qualität und Quantität soziale Verantwortung zu übernehmen. Die nun entstehenden "Rettungshäuser", von denen das 1833 von Johann Hinrich Wichern (1808-1881) gegründete Rauhe Haus das bekannteste wurde, bildeten den Anfang zahlreicher weiterer diakonisch-sozialer Einrichtungen.

Rettungshäuser mit Familienprinzip

Die Rettungsanstalt unterschied sich deutlich vom Straf- oder Zuchthaus, was bereits das Aufnahmeritual sinnenfällig macht. Als Antwort auf seine bisherige Lebensgeschichte hörte das Kind im Rauhen Haus: "Mein Kind, dir ist alles vergeben! Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist! Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel; nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier […] diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld. – Das bieten wir dir, und was wir fordern, ist zugleich das, wozu wir dir verhelfen wollen, nämlich dass du deinen Sinn änderst und fortan dankbare Liebe übest gegen Gott und Menschen!"  Die bisher prägenden (Über-)Lebensstrategien sollten bewusst verändert werden.

Die Kinder wurden im Alter von elf bis zwölf Jahren aufgenommen und mit Sechzehn entlassen. Auf der Basis des Familienprinzips entstand eine christliche Kolonie kleiner Häuser. Jeweils zwölf Kinder bewohnten mit einer Bezugsperson ein eigenes Häuschen und übten in dieser Kleingruppe soziales Verhalten ein. Vom durch Schule und Arbeit geprägten Alltag waren die Sonn- und Feiertage abgesetzt; Wichern ritualisierte das Leben in strukturierendem Wechsel kindgerecht. Ziel der Erziehung war die Förderung der individuellen Fähigkeiten, der Verantwortung und der Gemeinschaftsfähigkeit der Kinder. Anfang der 1870er Jahre wurde die 1.000. Neuaufnahme eines Kindes vollzogen.

Professionalisierung der Krankenpflege

Seit den 1830er Jahren vermehrten sich diese diakonischen Initiativen und erstreckten sich auf immer mehr Handlungsfelder. Zugleich entstanden damit neue Modelle christlicher Lebensentwürfe und Berufsbilder. So nahmen sich etwa Theodor Fliedner (1800-1864) und seine Frau Friederike Fliedner (1800-1842) beziehungsweise nach deren Tod seine zweite Frau Caroline Fliedner (1811-1892) der Krankenpflege an.

Die Fliedners wussten um die katastrophalen Zustände in den damaligen Hospitälern. Theodor Fliedner hatte auf seinen Reisen viele konkrete Erfahrungen gemacht: "Die armen Kranken lagen uns längst am Herzen. Wie oft hatte ich sie verlassen gesehen, leiblich schlecht versorgt, geistlich ganz vergessen, in ihren oft ungesunden Kammern dahinwelkend, wie die Blätter des Herbstes! Denn wie viele Städte, selbst von größerer Bevölkerung, waren ohne Hospitäler! Und wo Hospitäler waren – ich hatte deren auf meinen Reisen in Holland, Brabant [Belgien], England, Schottland, wie in unserm Deutschland viele gesehen –, da fand ich die Portale und Corridors freilich bisweilen von Marmor glänzend (so eins in Manchester), aber die leibliche Pflege war schlecht, die Ärzte klagten bitterlich über die Mietlinge bei Tag, die Mietlinge bei Nacht, über die Trunkenheit und andre Unsittlichkeit bei dem männlichen und weiblichen Wartpersonal". Das von den Fliedners 1836 in Kaiserswerth bei Düsseldorf gegründete Diakonissenmutterhaus verband eine Professionalisierung der Krankenpflege mit der Möglichkeit von Berufsarbeit und Absicherung der eigenen Existenz für unverheiratete Frauen sowie dem Angebot einer geistlichen Gemeinschaft. In seiner spezifischen, im Vergleich mit anderen zur gleichen Zeit entstehenden Modellen von Diakonissenhäusern weniger emanzipatorischen Ausrichtung traf das Kaiserswerther Modell den Nerv der Zeit und avancierte binnen weniger Jahrzehnte zu einem deutschland- und europaweit oft kopierten Original. Fliedner lehnte sich mit seinem Modell an die katholischen Pflegegenossenschaften an, übernahm aber auch aufklärerische Impulse der Krankenpflege.

Organisatorischer Rahmen

Ähnlich traditionsbildend wie die Fliedners für die so genannte weibliche Diakonie wurde Wichern für die männliche Diakonie. Seinem Rettungshaus gliederte er 1843 eine Ausbildungsstätte an. Dort bildete er seine "Brüder" aus, die man später als "Diakone" bezeichnete. Wichern galt in seiner Zeit als einer der herausragendsten Sozialexperten des Protestantismus. Das fand seinen Ausdruck in seiner Stegreifrede auf dem Wittenberger Kirchentag im September 1848. Als konkretes Ergebnis kam es zur Gründung des Central-Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (CA). Damit wurde den inzwischen entstandenen Initiativen ein organisatorischer Rahmen gegeben und eine offizielle Vernetzung ermöglicht; es folgten Gründungen von Landes- und Provinzialvereinen; Reiseagenten sollten dem CA über die soziale Lage in Deutschland berichten.

Zugleich erhielt die christliche Liebestätigkeit der Zeit mit dem Stichwort "Innere Mission" einen konzeptionellen Rahmen: "Wir verstehen unter der inneren Mission eine geordnete Arbeit der gläubigen Gemeinde in freien Vereinen". Diese zielte auf die Rechristianisierung des gesamten Volkes und seiner tragenden Institutionen (Familie, Staat, Kirche) und damit letztendlich auf den Aufbau des Reiches Gottes. Grundlegend für die Innere Mission als Erneuerungsbewegung war die Praxis des allgemeinen Priestertums. "Der Organismus der Werke freier, rettender Liebe ist die innere Mission."

Christliche Armenpflege

Von der Inneren Mission unterschied Wichern die Diakonie, die christliche Armenpflege. Er legte einen Entwurf zur Neugestaltung einer gegliederten Diakonie vor: Als freie Diakonie bezeichnete er das soziale Handeln in Familien und freien Vereinen. Der bürgerlich-staatlichen Diakonie wies er die Aufgaben der Armengesetzgebung, -polizei und -steuer zu. Im Vordergrund kirchlicher Diakonie sollten die Predigt an die Armen und die Hausarmenpflege stehen. Das Herzstück in Wicherns Auffassung der kirchlichen Diakonie bildete der Diakonat. Er verstand den Diakonat als selbstständiges Amt der Kirche und als notwendige Klammer der dreifachen Armenpflege: "Ohne Diakonat gibt es keine Diakonen, so viel reichste bürgerliche oder freie Diakonie sonst auch vorhanden sein mag."  Auf der Monbijou-Konferenz wurde 1856 zwar über ein entsprechendes Amt verhandelt, zur Einführung kam es jedoch nicht.

Es ließen sich noch viele weitere Personen und Initiativen nennen, so gründete Amalie Sieveking (1784-1859) einen "Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege" in Hamburg, Wilhelm Löhe (1808-1872) gestaltete ab 1854 ein Diakonissen-Mutterhaus auf lutherischer Grundlage in Neuendettelsau; Gustav Werner (1809-1887) versuchte das Reich Gottes in der Industrie zu verwirklichen und eine christliche Fabrik in Reutlingen zu entwickeln. Mit vielen anderen erreichten sie eine Professionalisierung der diakonisch-sozialen Arbeit, etwa in der Kinder- und Jugendhilfe, Krankenpflege, Behindertenhilfe oder Gefangenenfürsorge, lange bevor der Staat oder die Gesellschaft hier stärker Verantwortung übernahmen.

Diakonissen und Diakone

Über ein Jahrhundert hinweg wurde die Arbeit der Inneren Mission vor allem von Diakonissen und Diakonen geleistet, wobei es immer deutlich mehr Diakonissen als Diakone gab. So stieg die Zahl der Diakone seit 1877 von circa 650 auf 2.500 kurz nach der Jahrhundertwende, während zum Beispiel die Schwesternschaften der Diakonissen-Mutterhäuser 1898 knapp 12.000 umfassten, wovon circa 6.400 dem Kaiserswerther Verband angehörten. Hinzu kamen noch die Schwestern des Zehlendorfer Diakonievereins.

Immer stärker wurde Innere Mission zu einem Synonym für christliche Liebestätigkeit und verlor dabei die begriffliche Trennschärfe zur Diakonie. Immer mehr Handlungsfelder wurden in Angriff genommen, immer mehr Einrichtungen entstanden, bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts hinein weitgehend durch Spenden, Kollekten, Vermächtnisse und Schenkungen finanziert. Was Wichern noch in seinem Organismus-Modell zusammen denken konnte (Amt der verfassten Kirche und Charisma/Gabe in den freien Vereinen), differenzierte sich immer stärker als ein organisatorischer Pluralismus im kirchlichen Raum aus, der sich nach und nach als eine Art Zweitstruktur neben den landeskirchlich-verfassten Strukturen manifestierte und verfestigte: als Teil des so genannten Verbandsprotestantismus.

Innere Mission und entstehender deutscher Sozialstaat

Im deutschen Kaiserreich, in dem die Industrialisierung, die Deutschland erst verzögert erreicht hatte, ihren Höhepunkt erlebte, kam es für die christliche Liebestätigkeit zu einer Veränderung in der Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen. Der entstehende deutsche Sozialstaat gab nun immer stärker einen Rechtsrahmen vor und kam auch für die Finanzierung sozialer Arbeit auf. Ebenso veränderte sich auch das theologische Verständnis innerhalb der Inneren Mission: Den zum Teil recht charismatischen Gründern folgten die Gestalter, die nun nicht mehr so stark und unmittelbar auf das bald hereinbrechende Reich Gottes ausgerichtet waren.

Immer mehr diakonische Initiativen verwandelten sich in Einrichtungen und Institutionen, was sich auch in der zum Teil noch heute erhaltenen Bausubstanz niedergeschlagen hat. Diese Entwicklung lässt sich auch an der Schreibweise des Wortes "innere Mission" erkennen: Wichern schrieb es im Sinne eines Organismus' immer mit kleinem "i", während die Einrichtungen immer mehr dazu übergingen, sich als Institutionen der "Inneren Mission" mit großen "I" zu verstehen.

"Stadt der Barmherzigkeit"

Von besonderer Strahlkraft war die Einrichtung Friedrich von Bodelschwinghs (1831-1910). Anfänglich nur für 150 Kranke geplant, waren es 1910 schließlich circa 2.000, ebensoviel Personal kam hinzu. "Bethel, die 'Stadt der Barmherzigkeit', galt in Kreisen der Inneren Mission jahrzehntelang als christlicher Gegenentwurf zur Verstädterung in der modernen Industriegesellschaft. […] Die 'Stadt auf dem Berge' stellte beispielhaft vor Augen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der die Kräfte der Inneren Mission Säkularisierung und Entsittlichung überwunden und Familie, Kirche und politisches Gemeinwesen mit dem Geist des christlichen Denkens durchdrungen hatten.

"Es kam im Kaiserreich zu einem weiteren Ausbau bzw. zu einer fortwährenden Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Arbeitsfelder. Auch auf theoretischer Ebene wurde die neue sozialpolitische Entwicklung begleitet; es seien nur zwei Beispiele genannt: Theodor Lohmann (1831-1905), Mitgestalter der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, verfasste 1884 für den CA eine Denkschrift: "Die Aufgabe der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und sozialen Kämpfen der Gegenwart", deren Tenor in der Schlussbemerkung deutlich wird: "Dass die Kirche wieder werde das Gewissen der Völker auch für ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben, das ist das höchste Ziel ihrer inneren Mission."  Die Denkschrift ging aus von der Forderung, "dass jeder Mensch in seiner Menschenwürde anerkannt werde als Ebenbild Gottes, und dass sich diese Anerkennung, wie durch alle menschlichen Beziehungen, so auch durch die zwischen Arbeitgebern und Arbeitern hindurchziehen muss, und in der Feinfühligkeit, ja Empfindlichkeit unserer Arbeiter nach dieser Seite hin, sollten wir […] auch das Gute darin erkennen."

"Der Diakoniepfarrer Friedrich Naumann (1860-1919) entwickelte vier Jahre später Vorschläge für die Zukunft der Inneren Mission und setzte sich dann in den 1890er Jahren in Frankfurt für den Wohnungsbau ein. Auch die zu dieser Zeit aufkommenden gesellschaftlichen Fragen um Stand und Status der Frau traten in den Blick. 1899 kam es zum Beispiel zur Gründung der gemeindebezogenen Evangelischen Frauenhilfe sowie des eher gesellschaftsbezogenen Deutsch-Evangelischen Frauenbundes. Die weibliche Diakonie erfuhr 1894 durch die Gründung des Evangelischen Diakonie-Vereins durch Friedrich Zimmer (1855-1919) wesentliche neue Impulse.

Autor: Volker Herrmann

Aus: Gerhard K. Schäfer/Volker Herrmann: Geschichtliche Entwicklungen der Diakonie, in: Günter Ruddat/Gerhard K. Schäfer (Hg.): Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005, 36-67: 56-62.

Das 20. Jahrhundert

Die Zeit des Ersten Weltkriegs bildete so etwas wie eine sozialpolitische Sattelzeit. Zur bisherigen Klientel, den herkömmlich Benachteiligten, kamen nun solche Personengruppen, die durch den Krieg Schädigungen erlitten hatten: die Kriegswitwen und -waisen sowie -versehrten. Deren Unterstützung wurde als nationale Aufgabe angesehen.

Beim Aufbau des deutschen Sozialstaats bildeten die konfessionellen Träger sozialer Arbeit im Kaiserreich und vor allem in der Weimarer Republik wichtige Säulen; nach dem CA war 1897 der Caritas-Verband für das katholische Deutschland entstanden. Hatte der Protestantismus das Kaiserreich als einen mehr oder weniger evangelischen Staat verstanden, so stand er der entstehenden Weimarer Republik skeptisch gegenüber, auch weil er nicht so wie der Katholizismus mit dem Zentrum über eine politische Partei mitgestalten konnte, was sich auch sozialpolitisch auswirkte.

Rolle der Wohlfahrtsverbände

Im entstehenden Wohlfahrtsstaat spielten die auch noch heute vorhandenen Wohlfahrtsverbände eine große Rolle: Neben CA und Caritas-Verband entstanden nun die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (1917), die Arbeiterwohlfahrt (1919), das Deutsche Rote Kreuz (1921) und der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (1924); mit Ausnahme der AWO schlossen sie sich 1924 zur Deutschen Liga der Freien Wohlfahrtspflege zusammen. Die Innere Mission wirkte aktiv an der sozialstaatlichen Ausgestaltung mit, vernetzte sich auch im europäischen Bereich mit entsprechenden Initiativen und förderte diakoniewissenschaftliche Einrichtungen und Forschungen. Auf den weltanschaulich neutralen Staat reagierte die Innere Mission mit einer Steigerung ihrer volks-missionarischen Aktivitäten.

Der Wohlfahrtsstaat von Weimar war bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre arbeitsfähig. Nach 1933 verboten die Nationalsozialisten die Wohlfahrtsverbände oder versuchten, sie gleichzuschalten. Bei Caritas und Innerer Mission gelang dies insgesamt aufgrund ihrer Größe und des christlichen Hintergrunds der Arbeit nicht. Gleichwohl waren sie vielfältigen staatlichen Eingriffen ausgesetzt, zum Beispiel durch das Steuerrecht oder nach 1942 durch Beschlagnahme und Schließung ganzer Einrichtungen.

Zwangssterilisation und "Rassenhygiene"

Zu zentralen Herausforderungen für die Innere Mission wurden die Sterilisierungspolitik und die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. In der Folge des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (1934) wurden auch in diakonischen Einrichtungen zahlreiche Sterilisationen durchgeführt. „Für den Zeitraum vom 01.01.1934 bis zum 30.06.1935 wies die evangelische Gesamtstatistik folgende Zahlen aus: In den Pflegeanstalten (total 32.401 Betten) erfolgten 3.317 Unfruchtbarmachungen. In den Krankenhäusern (total 37.516 Betten) betrug die Zahl 5.539. Das ergab im Zeitraum von eineinhalb Jahren die Gesamtziffer von 8.856 Sterilisationen.“  Insgesamt wurde in allen staatlichen und anderen Einrichtungen in den Jahren von 1934 bis 1939 etwa 350.000 Menschen die Fortpflanzungsfähigkeit geraubt.

Seit 1940 setzten systematische Euthanasie-/Krankenmord-Aktionen ein, denen auch Tausende geistig behinderter und psychisch kranker BewohnerInnen aus christlichen Einrichtungen bis 1945 zum Opfer fielen. Die Reaktionen und Verhaltensmuster innerhalb der Verbandsstruktur sowie der Einrichtungen der Inneren Mission wiesen eine erhebliche Bandbreite auf. Insofern kam es nicht zu einer einmütigen Haltung der Ablehnung oder gar einer konzertierten Protestaktion. Mutige Aktionen Einzelner, unter anderem von dem Lobetaler Einrichtungsleiter Paul-Gerhard Braune (1887-1954), dem württembergischen Landesbischof Theophil Wurm (1868-1953) oder dem katholischen Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen (1878-1946), trugen jedoch dazu bei, die Krankenmordaktionen einzudämmen beziehungsweise abzubrechen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

„Der Hunger klopft an die Türen. Durch die Häuser, durch die Städte, von Jammer verfolgt, schreitet das Unglück. Obdachlose, verlassene, verzweifelte Menschen rufen um Hilfe. […] Ohne Dach und ohne Brot, sich betten auf einen Stein, bei Winterskälte im dünnen Kleid, die bloßen Füße im Schnee – dies darf und soll nicht das Los von Millionen unserer Brüder und Schwestern werden.“ Mit diesen Worten ging im Herbst 1945 das Hilfswerk an die Öffentlichkeit.

Neben dem CA wurde im August 1945 das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland durch Eugen Gerstenmaier (1906-1986) initiiert. Angesichts der schier grenzenlosen Notsituation sollten die gesamte Kirche, jede Gemeinde, jeder Amtsträger und jeder Christ zur Hilfe aufgerufen werden: „Kirche in Aktion“ war das Stichwort. Namhafte Unterstützung kam weltweit aus den Freikirchen, so dass auch die deutschen Freikirchen in das Hilfswerk eingebunden wurden. Durch Spenden vor allem aus den USA, Schweden und der Schweiz konnten akute Nothilfe (Nahrung, Kleidung, Wohnung, Suchdienst, Gefangenen-betreuung) und kirchlicher Wiederaufbau geleistet werden. Ende 1947 waren 1.500 Flüchtlingsfürsorger angestellt, die sich um die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen bemühten.

Diakonie wurde Programmbegriff

Mit dem Hilfswerk verbanden sich insbesondere drei theologische Impulse: Erstens wurde Diakonie konsequent als Wesenszug und Grundstruktur von Kirche zur Geltung gebracht. Im Kontrast zur „Inneren Mission“ wurde – zweitens – „Diakonie“ zum Programmbegriff erhoben. Gerstenmaier strebte drittens eine Ausweitung der Reichweite diakonischer Verantwortung an, abgekürzt „Wichern II“ genannt: „Wir wären einen guten Schritt weiter, wenn wir […] endlich der Linie Wicherns folgten und uns bemühten, unser charitatives Handeln dort, wo es notwendig ist, zu einem sozialen, politisch verantworteten Handeln zu machen.“ Damit war für Eugen Gerstenmaier in Aufnahme eines Wichernwortes „der Grenzstein aufgerichtet […] zwischen der bisherigen und einer zukünftigen Epoche der christlich rettenden Liebesarbeit.“

Bald nach der Währungsreform, als die unmittelbare Katastrophenhilfe nicht mehr nötig war, ging der Einfluss des Hilfswerks zurück. Als Dank und Weitergabe der erhaltenen Hilfe entstand 1959 im diakonischen Bereich die Aktion „Brot für die Welt“, die inzwischen eine feste Größe in der kirchlichen Entwicklungsarbeit ist. Zu einer diakonischen Neugestaltung der Kirche kam es nur bedingt, vielmehr hinterfragte man nun das Nebeneinander von CA und Hilfswerk. 1957 wurde beschlossen, beide zusammenzuführen. Der Prozess der Zusammenführung fand seinen Abschluss in der Bundesrepublik 1975/76 mit Gründung des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Diakonie unter den Bedingungen der DDR

Im Gegensatz zu den anderen Ländern des Ostblocks wurden in der DDR und bereits zuvor in der Sowjetischen Besatzungszone die diakonischen Tätigkeiten der Kirchen nicht gänzlich verboten. Doch hing der jeweilige Freiraum erheblich von den politischen Maßgaben ab. Jugenderziehung war Aufgabe von Staat und Partei; diesen Bereich musste die Diakonie stark einschränken.

In der Betreuung von Menschen mit Behinderungen konnte sie hingegen geradezu eine Pionierfunktion einnehmen; so kam es z.B. seit 1967 zum Aufbau von Sondertagesstätten für geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Bis in die 1980er Jahre stellte die Diakonie rund die Hälfte der Plätze für Schwer- und Schwerstbehinderte. Vor allem die öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten standen unter besonderer Aufmerksamkeit von Staat und SED, so wurden etwa 1956 die Bahnhofsmissionen aufgelöst. Zur Gründung der Aktion „Brot für die Welt“ kam es hingegen auch in der DDR.

Generell unterlagen die Möglichkeiten der Diakonie der jeweiligen DDR-Kirchenpolitik. 1969 vollzog sich der Zusammenschluss von CA und Hilfswerk in der DDR, es bildete sich das Diakonische Werk – Innere Mission und Hilfswerk – der Evangelischen Kirchen in der DDR. Nach 1978 erweiterten sich die Möglichkeiten der Diakonie, so wurde z.B. die Möglichkeit der Seelsorge in staatlichen Heimen gewährt, 1981 wurde vom Diakonischen Werk und dem Internationalen Kongress christlicher Ärzte eine erste Studientagung in Dresden (Gottes Wort an die Geschädigten) veranstaltet, und ab 1986 wurde die erste kirchliche Telefonseelsorge in der DDR eingerichtet.

Diakonie in der Bundesrepublik Deutschland

In der Bundesrepublik übernahmen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege erneut soziale Aufgaben. Im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG, 1961) und des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG, 1961) sowie durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1967) wurde ihnen eine bedingte Vorrangstellung bei der Übernahme sozialer Aufgaben vor dem Staat eingeräumt. Im Hintergrund stand hier das aus der katholischen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip. Diakonietheologisch wurde zur gleichen Zeit um das Recht einer „gesellschaftlichen“ Diakonie gerungen.

Seit den 1960er Jahren wurden – angesichts der wachsenden Aufgaben – immer mehr MitarbeiterInnen in der Diakonie benötigt; zugleich ging die Zahl der Diakonissen zurück. Anfang der 1970er Jahre kam es u.a. mit der Gründung zahlreicher Evangelischer Fachhochschulen für Diakonie und Soziale Arbeit zu einer weitergehenden Professionalisierung und Akademisierung der Mitarbeiterschaft. Etwa zur gleichen Zeit verschwand mit der Gemeindeschwester die Symbolfigur der Gemeindediakonie; nun wurden Diakonie- und Sozialstationen eingerichtet.

Mitte der 1980er Jahre geriet der Sozialstaat in die Krise. Ausgerichtet auf die Situation der Vollbeschäftigung war die Finanzierung sozialer Leistungen angesichts ökonomischer und demographischer Veränderungen nicht mehr im bisherigen Maße sicher zu stellen. Beginnend mit dem Pflegeversicherungsgesetz (1994) wurde der Vorrang der freien Wohlfahrtspflege nach und nach aufgegeben und die Situation in Richtung eines Sozialmarktes verändert.

Zur Diakonie der Gegenwart

Im Rahmen der deutschen Einheit kam es zu einer Vereinigung der ost- und westdeutschen Diakonie. Von Seiten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wurde diakonischen Fragen vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Es entstanden z.B. der Beitrag „Der evangelische Diakonat als geordnetes Amt der Kirche“ (1996) „Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität“ (2006) oder die sog. Diakonie-Denkschrift „Herz und Mund und Tat und Leben“ (1998). Darin ist auch das Leitbild Diakonie aufgenommen worden, das 1997 von der Diakonischen Konferenz verabschiedet wurde.

Seit den 1990er Jahren haben sich auch immer mehr diakonische Einrichtungen um die Entwicklung eigener Leitbilder bemüht, um angesichts sich wandelnder gesellschaftlicher und sozialstaatlicher Rahmenbedingungen das Profil ihrer Arbeit innerhalb und außerhalb der Einrichtungen und Dienste neu auszuarbeiten und zu vermitteln. Die diakonische wie Soziale Arbeit allgemein ist nicht nur einer wachsenden Verrechtlichung, sondern vor allem einem steigenden Ökonomisierungsdruck ausgesetzt. Zugleich fordert der europäische Rahmen Prozesse der Neuorientierung, Angleichung und Kooperation.

Die so genannte. Bratislava-Erklärung (1994) eröffnete den „Weg zu einer Vision von Diakonie in Europa“: „Unsere Zukunftsvision für Europa ist gekennzeichnet durch Offenheit gegenüber der übrigen Welt und durch die Beseitigung von tiefgreifenden wirtschaftlichen Spaltungen, Rassismus und Diskriminierung und durch die Schaffung gleichberechtigter Chancen und Behandlung von Menschengruppen, die zur Zeit ausgeschlossen werden. Es ist eine Vision tragfähiger Gemeinschaften, die sich durch Nachbarschaftsgeist, Miteinander-Teilen und Sorge um den Menschen und die Umwelt auszeichnen. Diakonie ist dazu berufen, in Zusammenarbeit mit anderen zur Verwirklichung dieser Vision beizutragen.“

Aus: Gerhard K. Schäfer/Volker Herrmann, Geschichtliche Entwicklungen der Diakonie, in: Günter Ruddat/Gerhard K. Schäfer (Hg.), Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005, 36-67: 62-66.

Autor: Volker Herrmann

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