Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen

15. September 2016
  • Stellungnahme
  • Armut und Arbeit
  • Menschenwürdiges Existenzminimum

Die Diakonie Deutschland nimmt Stellung zum Referentenentwurf zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Zur fachlichen Beurteilung des angewandten Rechenmodells hat die Diakonie Deutschland Dr. Irene Becker, Empirische Verteilungsforschung, Riedstadt, mit einem Fachgutachten beauftragt, das in Kürze veröffentlicht wird. Erste Ergebnisse dieses Gutachtens sind in diese Stellungnahme eingeflossen.

Zusammenfassende Beurteilung des Gesetzentwurfs:

Der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales Ende August vorgelegte Referentenentwurf (RE) eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Bearbeitungsstand: 29.08.2016) entspricht inhaltlich weitgehend den Vorschriften des Regelbedarfsermittlungsgesetzes 2011. Er berücksichtigt jedoch nur wenige (drei) Korrekturen, die konkrete Änderungsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) umsetzen. Weitere Hinweise in den Urteilen des BVerfG von 2010 und 2014 sowie Kritik aus Wissenschaft und Verbänden werden nicht aufgegriffen oder mit nicht sachgerechter Darstellung und Deutung der Empirie abgewiesen. Damit gelten methodische und gesellschaftspolitische Einwendungen gegen das RBEG 2011 entsprechend auch für den RE 2016. Zudem wird das Gebot der Transparenz noch weniger befolgt als im Gesetzgebungsverfahren 2010/2011, da das veröffentlichte statistische Material vergleichsweise spärlich ist. Letztlich orientiert sich der RE an Minimalstandards, die aus den einschlägigen Urteilen des BVerfG abgeleitet oder entnommen werden, nicht aber an gesellschaftspolitischen Zielen der Bedarfs- und Chancengerechtigkeit, die über das verfassungsrechtliche Minimum hinausgehen.

Aus Sicht der Diakonie Deutschland muss die Grundsicherung so ausgestaltet sein, dass sie die sozialen und kulturellen Teilhabemöglichkeiten verbessert. Die Regelsätze müssen ein eigenverantwortliches Wirtschaften auf der Grundlage einer realitätsgerechten Bedarfsermittlung zulassen. Eigenverantwortlichkeit von mündigen Bürgerinnen und Bürgern setzt die Deckung ihrer sozialen und kulturellen Mindestbedarfe voraus. Die nur leicht angehobenen Regelsätze sind aber offenbar politisch gesetzt und lassen die vom Bundesverfassungsgericht geforderte transparente Ermittlung nach fachlichen Gesichtspunkten vermissen. Vielmehr bleibt es beim problematischen Herausrechnen einzelner Bedarfspositionen. So bleibt die geplante Neuregelung weit hinter den Notwendigkeiten zurück.

Die teilweise marginalen, teils beträchtlichen Kürzungen aus den Konsumausgaben der Referenzgruppen summieren sich auf etwas mehr (bei Erwachsenen und Kindern unter 6 Jahren) bzw. etwas weniger (bei Kindern ab 6 Jahren und Jugendlichen) als ein Viertel der Ausgaben der jeweiligen Referenzgruppe. Die Kürzungen sind auf Bereiche der sozialen Teilhabe konzentriert: Der höchste Abschlag ergibt sich bei den Kindern unter 6 Jahren – nur die Hälfte der entsprechenden Ausgaben der Referenzgruppe gelten als regelbedarfsrelevant. Aber auch bei den Jugendlichen ist eine Kürzung der Referenzausgaben um zwei Fünftel unter Aspekten der Teilhabegerechtigkeit nicht vertretbar. Ein Vergleich mit den Ergebnissen, die dem RBEG 2011 zugrunde liegen, zeigt zudem, dass das relative Gewicht der Abschläge hinsichtlich der sozialen Teilhabe bei den Kindern und Jugendlichen erheblich – um etwa zehn Prozentpunkte – zugenommen hat.

Häufig beschränkt sich der RE auf die knappe Bemerkung, dass das gestrichene Gut nicht zum existenziellen Bedarf gehöre, teilweise wird vermerkt, dass der physische Grundbedarf nicht tangiert sei. Derartige Begründungen sind unzureichend, da es auf die Summe der Streichungen ankommt, bzw. nicht haltbar, denn es geht um ein soziokulturelles Existenzminimum, nicht um den physischen Grundbedarf.

Nach wie vor ungelöst bleibt das Problem der sogenannten "Weißen Ware" (Kühlschrank, Waschmaschine, weitere elektrische Großgeräte). Diese ist im Regelsatz mit minimalen Beträgen berücksichtigt, das Ansparen für eventuelle Ausfälle bleibt unrealistisch und Darlehen die Regel. Systematisch richtig wäre, Einzelerstattungen vorzusehen. Trotz Kritik des BVerfG geht der Gesetzgeber nicht auf diese Problematik ein.

Das BVerfG mahnte an, der Gesetzgeber müsse künftig sicherstellen, dass der existenznotwendige Mobilitätsbedarf tatsächlich gedeckt werden kann. Die Sonderauswertung Mobilität ist insbesondere für Paare mit einem Kind von 14 bis unter 18 Jahren wegen der Fallzahl von nur 12 Haushalten nicht haltbar.

Generell wird die Problematik der geringen Fallzahlen (Regelbedarfsstufe 4 / 5 / 6: 106 / 145 / 277) weder erwähnt noch berücksichtigt, obwohl laut BVerfG 2010 die Fassung der Referenzgruppe breit genug sein muss, um statistisch zuverlässige Ergebnisse zu gewährleisten (BVerfG 2010: Rn. 168).

Insgesamt genügt die Vorgehensweise zur Ermittlung des soziokulturellen Existenzminimums nicht den wesentlichen Anforderungen der gewählten empirisch-statistischen Methode (kurz: Statistikmodell). Auch wenn sich der Entwurf auf dieses Modell beruft, folgt er de facto der Warenkorbmethode. Der alternative Warenkorbansatz basiert ursprünglich auf Schätzungen von Expertinnen und Experten über Arten, Mengen und Preise von mindestens erforderlichen Gütern. Bei der vorliegenden Regelbedarfsermittlung basiert die Zusammenstellung des Warenkorbes aber nicht auf wissenschaftlicher Fachexpertise unter Berücksichtigung diverser empirischer Grundlagen, sondern wird von der Politik auf der Basis von Mittelwerten, die im Kontext der Warenkorbmethode nicht geeignet sind, vorgenommen. Die Bezeichnung der Berechnungsmethode von 2011 und 2016 als Statistikmodell suggeriert eine empirische Stringenz, die faktisch nicht gegeben ist. Die daraus folgende Irreführung und Intransparenz findet sich in vielen Details des Gesetzentwurfs, das Ergebnis der nahezu unveränderten Beträge der Regelbedarfsstufen ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend.

Insgesamt kommt es aufgrund dieser Herangehensweise zu massiven Kürzungen an den in der statistischen Vergleichsgruppe festgestellten Ausgabepositionen, die entsprechend dem Statistikmodell Grundlage für die Ermittlung des Regelsatzes sein müssten.

In der Stellungnahme werden diese Punkte erläutert.