Wie eine Erzieherin aus Rumänien Deutschland erlebt
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Weiterhin fehlen Fachkräfte in deutschen Kitas. Die Stadt Stuttgart und der Verein für internationale Jugendarbeit (VIJ) haben sich daher zusammen getan und Bewerbungsgespräche im rumänischen Sibiu geführt. Wie die Erzieherin Semida Ariesan den Neuanfang in Deutschland erlebt, berichtet sie in ihrer Geschichte.

Semida Ariesan spielt mit den Kindern der Kita Storchennest in Stuttgart – hier fühlt sie sich sehr wohl
Letztes Jahr hat sich mein Leben innerhalb von 3 Tagen komplett gewandelt. Dabei war das gar nicht geplant. Es ging los mit einem Anruf von meinem Vater, der eine Stellenanzeige in der Zeitung gesehen hatte. "In Deutschland suchen sie Erzieherinnen", sagte er. Das konnte ich gar nicht glauben: "Die verkaufen mich bestimmt", habe ich nur erwidert. Denn viele Rumäninnen gehen ins Ausland, arbeiten aber nicht in ihrem gelernten Beruf oder werden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Zum Beispiel kenne ich Kolleginnen, die jetzt als Kellnerin in einer Bar tätig sind. Ich wollte das auf gar keinen Fall! Ich hab eine Ausbildung zur Erzieherin und Lehrerin und einen Bachelor in Japanologie und Germanistik und möchte nichts anderes machen.
Meinen Lebenslauf habe ich dann an die Adresse in Deutschland gemailt. Am selben Tag noch erhielt ich die Einladung zum Vorstellungsgespräch, das 3 Tage später in Hermannstadt, heute Sibiu genannt, stattfinden sollte. Ich begann sofort, im Internet zu recherchieren, was mich in Deutschland erwartet. Vorher war ich nur im Urlaub dort gewesen. Deutsche Freunde bestätigten mir dann, dass es in Deutschland ein neues Gesetz gibt, wonach alle Kinder einen Anspruch auf einen Kita-Platz haben und daher Fachkräfte in den Kitas gesucht werden.
Arbeitsvertrag beim Vorstellungsgespräch
Das Vorstellungsgespräch war sehr intensiv, es dauerte 2 Stunden. Maria Simo vom Verein für Internationale Jugendarbeit (VIJ), die meine Unterlagen geprüft hatte, begrüßte mich auf Rumänisch. Beim Gespräch saß ich dann 3 Mitarbeitern von der Stadt Stuttgart und vom Jugendamt gegenüber. Danach fuhr ich mit einem unterschriebenen Arbeitsvertrag nach Hause. Das war natürlich ungewöhnlich, gleich einen Vertrag überreicht zu bekommen. Maria Simo erklärte mir später, dass es darum ging, Vertrauen aufzubauen und uns Frauen ein Stück Sicherheit zu geben. Ich muss sagen: Ohne den Vertrag hätte ich mein altes Leben in Rumänien tatsächlich nicht einfach so aufgegeben.
Jetzt arbeite ich seit September 2013 in der Kita Storchennest in Stuttgart-Bad Canstatt und betreue dort mit meinen Kolleginnen die 3- bis 6-Jährigen. Meine Hauptverantwortung ist die Leseecke. Freitags leite ich den Musikkreis. Es macht mir großen Spaß. Von Anfang an verlief die Zusammenarbeit im Team harmonisch – die Mitarbeiter vom Jugendamt haben uns menschlich wirklich gut eingeschätzt. Den anderen 7 Erzieherinnen aus Rumänien gefällt es auch in ihren Kitas.
Rumänen müssen sich mehr beweisen
Sicher gibt es im Allgemeinen Vorurteile gegen uns Rumänen, aber ich erlebe die nicht. Bisher wurde ich zum Glück immer als Mensch aufgenommen. Es macht nämlich einen großen Unterschied, wenn man vor jemandem steht und die Möglichkeit hat, sich kennen zu lernen und auszutauschen. Dabei hilft mir, dass ich bereits im Kindergarten und in der Grundschule auf Deutsch unterrichtet wurde und keinerlei Verständigungsprobleme habe. Dennoch denke ich, dass sich Rumänen hierzulande mehr beweisen müssen. Sie müssen erst einmal zeigen, dass sie nicht nur betteln, sondern dass sie sogar eine Ausbildung haben.
Der VIJ organisiert einmal im Monat ein Treffen für uns 8 Erzieherinnen. Mit Maria Simo kann ich dann auf Rumänisch sprechen und meine Fragen klären. Auch im Kindergarten frage ich viel, vor allem nach dem Erziehungskonzept, weil es ganz anders ist. Die Werte, die Vorstellungen sind anders. Jedes Land hat eigene Erziehungsziele. Zum Beispiel will man in Rumänien, dass die Kinder sich für besser bezahlte Berufe vorbereiten und dann Arzt oder Anwalt werden. Es wird viel Wissen von ihnen verlangt. Schon im Kindergarten geht es los. In Deutschland ist es anders, hier können die Kinder eher ihren Leidenschaften nachgehen, weil es auch mehr berufliche Möglichkeiten gibt. Wenn jemand gut malen kann, kann er sich da weiterentwickeln. Auch habe ich hier gelernt, den Kindern Freiheit zu geben, sie als kleine Erwachsene zu sehen und zu vertrauen, dass sie viel mehr können als wir denken. In Rumänien haben wir eher eine protektive Gesellschaft. Es wird mehr auf die Kinder aufgepasst, es darf nichts passieren, sonst wird die fachliche Kompetenz als Erzieherin in Frage gestellt. Es ist nicht gut oder schlecht, einfach nur unterschiedlich.

Semida Ariesan (26) hat im rumänischen Sibiu auf Deutsch studiert
In Deutschland hat man mehr Ruhe
Mir gefällt, dass ich hier viel Neues lernen und mich weiterentwickeln kann. Wenn man in eine andere Kultur kommt, dann ist man gezwungen, sich zu hinterfragen. Es ist eine Herausforderung, sich anzupassen, die Welt von einem anderen Blickwinkel zu sehen. Ich versuche, das Beste aus beiden Kulturen zu machen. In Rumänien gefällt mir die Beziehung unter den Menschen. Die Nachbarn, die Freunde, die Familien halten mehr zusammen. Es ist nicht jeder für sich. Das hält auch die Welt insgesamt zusammen.
In Deutschland dagegen sieht man viele Einzelgänger, Menschen sitzen allein im Restaurant. Es ist ein anderer Lebensstil. Dafür hat man mehr Ruhe. Eine Mischung aus beiden Kulturen wäre für mich perfekt. Mir gefällt hier auch, dass die Natur geschätzt wird, dass es viele ruhige Ecken gibt. Es ist geruhsam für die Augen, in schönen Parks sich zu entspannen, auf sauberen Straßen zu gehen. Es ist nicht so chaotisch wie in Rumänien – gerade das war am Anfang schwierig und ungewohnt für mich, aber inzwischen gefällt mir die Ordnung in Deutschland, weil sie mir Sicherheit gibt.
Vielleicht nach Japan
Zu Beginn wollte ich den neuen Job nur für ein Jahr ausprobieren. Jetzt kann ich mir vorstellen, länger zu bleiben. Der Vertrag ist auf ein Jahr befristet, aber soll verlängert werden. Die Ausbildung aus Rumänien wird anerkannt, unter der Voraussetzung, dass man 6 Monate in einer Tageseinrichtung gearbeitet und an 25 Fortbildungstagen teilgenommen hat. Danach könnte ich auch woanders arbeiten – wenn ich will. Zu meinen Kolleginnen habe ich schon scherzeshalber gesagt: "Wenn ich hier weggehen sollte, dann ziehe ich nach Japan. Aber solange ich in Deutschland bin, bleibe ich auch hier in dieser Kita!"
Mal sehen, was passiert. Die Welt ist zu groß und hat zu viel anzubieten, um ein Leben lang nur an einem einzigen Ort zu bleiben. Irgendwann hat man Familie, und dann sind es die eigenen Kinder, die die Reise weiterführen. Bis dahin bin aber wohl ich die Reisende.
Text: Diakonie/Ulrike Pape