Wie ein Inklusionsprojekt im Wohnquartier gelingen kann

5. April 2019
  • Journal
  • Inklusion und Behindertenhilfe
  • Bundesteilhabegesetz

Wie lässt sich die Teilhabe von psychisch kranken Menschen im Sozialraum spürbar verbessern? Inklusion in der Nachbarschaft haben fünf Modellstandorte bundesweit in der Praxis ausprobiert. Wie dies gelungen ist, berichtet Professor Tim Hagemann von der FH der Diakonie in Bielefeld.

Zwei Männer spielen vor Publikum Tischtennis
© Graf Recke Stiftung

Sport verbindet: In Düsseldorf, einem der fünf Modellstandorte des Inklusionsprojekts, spielen neuerdings Menschen mit und ohne Behinderung zusammen Tischtennis

Worum ging es in dem Inklusionsprojekt Wohnquartier und Zivilgesellschaft?

Professor Tim Hagemann: Es ging um die Teilhabe von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, weil Menschen mit Psychatrieerfahrung bei vielem in ihrem direkten Lebensumfeld noch außen vor sind. Zum Beispiel sind ihre Möglichkeiten beschränkt, in einem Sportverein aktiv zu sein oder beruflich Fuß zu fassen. Auch auf dem Wohnungsmarkt gibt es Stigmatisierungen und Ausgrenzungen.

Für das Projekt wurden fünf Modellstandorte herausgesucht, in Süd und Nord, Ost und West, im ländlichen und städtischen Bereich. Frage war, wie weit hier in einzelnen Stadtteilen und dörflichen Strukturen Teilhabe für Menschen mit Psychatrieerfahrung ermöglicht werden kann.

Wichtig war uns ein trialogischer Ansatz. Das heißt, dass sowohl die Betroffenen selbst, ihre Angehörigen wie auch die Mitarbeitenden auf Augenhöhe gemeinsam versucht haben, Lösungen zu finden und zu schauen, wie in ihrem direkten Umfeld Teilhabe geschaffen werden kann. Viele Kooperationen wurden geschlossen, etwa mit Vereinen, Kirchengemeinden, Schulen oder der Selbsthilfe vor Ort. Auch gab es zahlreiche Aktivitäten, die die Einrichtung geöffnet haben für Menschen in der Nachbarschaft. Um nur einige zu nennen: Kräuterwanderungen, Theatergruppe, Mitmachwerkstatt, Nähstübchen, Weihnachtsmarkt, Stadtspaziergänge oder Tischtennisturniere.

Tim Hagemann
© privat

Professor Tim Hagemann hat das Inklusionsprojekt "Wohnquartier und Zivilgesellschaft - Miteinander gestalten" ausgewertet

Das Projekt endet 2019 nach vier Jahren. Was haben Sie herausgefunden?

Hagemann: Wir haben mit den Beteiligten Interviews durchgeführt und Einstellungsveränderungen festgestellt. Grundtenor war: "Das hat viel mit mir gemacht. Das hat etwas verändert". Empowerment ist hier das Stichwort. Es geht um das Erleben der eigenen Ressourcen, das Ermöglichen von positiven Begegnungen in der direkten Umgebung. Das gilt in erster Linie für Menschen mit Psychatrieerfahrung, die oft die Tendenz haben, sich zurückzuziehen, sich überfordert fühlen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wenn man die Einrichtungen zum Beispiel sehr stark nach außen öffnet, etwa durch Sommerfeste oder offene Angebote für alle, erzeugte das bei einigen gemischte Gefühle und die Sorge, ihre Schutzräume zu verlieren. Viele Psychiatrie-Erfahrene gehen zum Beispiel schon früh in den Supermarkt, wenn noch nicht viel los ist, weil sie wissen, dass sie mit ihrem Verhalten auffällig sind und nicht so in den Fokus geraten wollen. Es ist also immer eine Gratwanderung, die ausbalanciert werden muss, sowohl die Menschen zu ermutigen, stärker am Leben da draußen teilzunehmen als auch ihnen Schutzräume zu bieten. Es gilt also keineswegs pauschal: Umso mehr Inklusion und umso mehr wir uns öffnen, desto besser.

Was sind Ihre Schlussfolgerungen? Auch im Hinblick auf Nachfolgeprojekte: Was verhilft zu Teilhabe?

Hagemann: Gut funktionieren ungezwungene, niedrigschwellige Freizeitangebote, die gemeinsame Interessen bündeln von Nachbarn und Psychiatrie-Erfahrenen - wie zusammen im Chor singen oder sich sportlich betätigen. Solche gemeinsamen Erlebnisse setzen den Fokus auf das Positive, das Verbindendende: Man hat etwas gefunden, das allen Spaß macht. Es ist auch eine Bereicherung für die Nachbarschaft, wenn es mehr kulturelle Angebote oder Austauschmöglichkeiten gibt. So berichteten die Nachbarn von weniger Berührungsängsten und mehr Offenheit dank gemeinsamer Aktivitäten.

Hilfreich ist es auch, auf die Akteure im direkten Umfeld zuzugehen, auf den Bäcker, den Buchhändler, einen nahen Verein, also den sozialen Raum um Einrichtungen herum zu öffnen. Für die Menschen mit Pychatrieerfahrung, die sich bisher an solche Orte nicht getraut haben, erweitern sich so ihre Bewegungs- und Handlungsspielräume. Sie empfinden mehr Mut und Kompetenz sich einzumischen. "Was kann ich noch wollen? Wie kann ich meine Lebensqualität erhöhen?", sind Denkanstöße, die etwas in Bewegung setzen. Im direkten Lebensraum lassen sich so Impulse setzen, die dann als nächstes auch positiv auf andere Bereiche des Lebens wie Wohnungsmarkt oder Arbeitsleben einwirken.

Interview: Diakonie/Ulrike Pape