Wenn die Zeit zum Feind wird
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Zeit. Wenn es eines gibt, wovon Harald Spörls Klienten genug haben, dann ist es Zeit. Sie lauert schon morgens in der Zimmerecke. Sie hängt schwer wie Blei in den Vorhängen.

Über die Rufbereitschaft können Suchtkranke und deren Angehörige Harald Spörl und sein Team in der Beratungsstelle jederzeit erreichen
Sie drückt auf den Brustkorb und macht das Atmen schwer. Sie ist unerbittlich, verbündet sich mit Ängsten und schlechtem Gewissen, enttäuschten Hoffnungen und zerschlagenen Träumen, bis sie irgendwann zu mächtig ist, um sich ihr alleine entgegenzustellen.
18,5 Prozent der Frauen und 27 Prozent der Männer über 65 konsumieren Alkohol in riskanter Höhe, Tendenz steigend. Auch von Medikamentenmissbrauch ist die Altersgruppe überproportional häufig betroffen. Dennoch war Sucht im Alter in der gesellschaftlichen Diskussion bis vor wenigen Jahren kein Thema. „Es war ein Tabu und die Dunkelziffer ist bis heute hoch, aber da immer mehr Menschen von Pflegediensten oder stationär in Altenpflegeeinrichtungen versorgt werden, offenbart sich allmählich das Ausmaß des Problems. Das Pflegepersonal kann seinem Auftrag nämlich oft schlicht nicht mehr nachkommen, wenn Klienten unter einer Suchterkrankung leiden. Dann klingelt bei uns das Telefon“, sagt Harald Spörl.
Der Sozialpädagoge arbeitet bereits seit mehr als 15 Jahren in der Suchthilfe, zunächst ausschließlich für die Stiftung Waldmühle des Evangelischen Vereins für Innere Mission Frankfurt am Main. Seit 2014 nun leitet er ein Modellprojekt zur Vernetzung von Altenhilfe und Suchthilfe: Im Rahmen der Beratungsstelle Sucht im Alter kooperiert die Stiftung Waldmühle eng mit dem zum gleichen Träger gehörenden Hufeland-Haus, in dessen Einrichtungen und von dessen ambulantem Pflegedienst rund 500 Seniorinnen und Senioren in Frankfurt betreut werden. Darüber hinaus fanden Spörl und sein Team in Frankfurt gute Ausgangsbedingungen vor – in der Stadt, die für ihren pragmatischen Ansatz in der Drogenpolitik bundesweit bekannt ist („Frankfurter Weg“), zeigten sich vom Sozialamt bis zum Drogenreferat alle relevanten Träger zur Zusammenarbeit bereit. Bis Anfang 2017 finanziert sich das Projekt aus Mitteln der deutschen Fernsehlotterie und der Diakonie. Voraussichtlich wird das Hessische Ministerium für Soziales und Integration das Projekt in modifizierter Form weiter fördern. Aus gutem Grund, denn eine enge Vernetzung von Alten- und Suchthilfe ist nach einhelliger Einschätzung von Fachleuten dringend erforderlich – nicht nur, aber auch angesichts des demografischen Wandels und der Tatsache, dass auch viele Langzeitsuchterkrankte dank guter medizinischer Versorgung immer älter werden.
Absturz im Rentenalter
„Die Langzeiterkrankten machen derzeit aber nur einen kleinen Teil unserer Klienten aus. Tatsächlich rutscht die Mehrzahl der abhängigen Seniorinnen und Senioren erst mit Beginn des Ruhestands in die Sucht hinein – selbst Menschen, die über Jahre hinweg gut gelebt und auch im Alter ein gutes finanzielles Auskommen haben“, erklärt Harald Spörl. Doch eine gute Rente feit niemanden vor Schicksalsschlägen. Wenn der Partner oder die Partnerin stirbt, die Kinder in eine andere Stadt ziehen oder eine schwere Krankheit diagnostiziert wird, liegen die Pläne für den Lebensabend in Scherben, und aus der sehnsüchtig erwarteten „mehr Zeit für mich“ wird verzweifelte Einsamkeit.
Der Einsamkeit zuhause, die oft noch durch eine eingeschränkte Mobilität verstärkt wird, folgen häufig Verwahrlosung und aus der Sucht entstandene gesundheitliche Schäden, insbesondere beim Alkoholmissbrauch. „Alkohol ist aus meiner Sicht mit Abstand die schlimmste aller Drogen“, stellt Harald Spörl fest. „Dass er so leicht zu beschaffen und gesellschaftlich anerkannt ist wie keine andere Droge, ist das eine. Vor allem führt er aber wie keine andere Droge dazu, dass die Menschen verwahrlosen, aggressiv werden und sich und andere in gefährliche Situationen bringen. Wir bräuchten dringend eine Diskussion darüber, ob zumindest Hochprozentiges so leicht verkäuflich sein sollte, wie es derzeit der Fall ist.“
Doch das ist so schnell nicht in Sicht, ebenso wenig lässt sich derzeit verhindern, dass ältere Menschen sich unabgestimmt von mehreren Ärzten gleichzeitig Medikamente verschreiben lassen. Daraus, aber auch aus der begrenzten verbleibenden Lebenszeit der Betroffenen resultiert ein besonderer Pragmatismus. „Was wir für unsere Klienten anstreben, ist keine Abstinenz, sondern mehr Lebensqualität“, bringt es der Sozialpädagoge auf den Punkt. „Wenn wir über die Pflegedienste oder über Angehörige ins Gespräch gekommen sind – und das ist die größte Hürde – machen wir Angebote, die dazu beitragen, den Tag zu strukturieren, wieder in Kontakt mit Menschen zu kommen und die Leere zu füllen. Wir können und wollen aber niemanden zu etwas zwingen. Damit sind wir bislang sehr gut gefahren.“ Ihre Erfahrungen werden Harald Spörl und sein Team demnächst auch in Schulungen weitergeben. „Wir haben mittlerweile Kontakt zu allen großen Pflegediensten aufgenommen – das Bewusstsein wächst und die Nachfrage für Informationen ist da. Jetzt müssen wir ausreichend Beratungsangebote schaffen.“
Text: Diakonie/Mascha Schacht