Vielfalt kennen und schätzen lernen

17. Mai 2019
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Die Evangelische Jugendhilfe Bochum ist erfahren in Interkultureller Öffnung

sieben erwachsene Personen sotzen an einem langen Tisch
© Diakonie/Michael Englert

Sozialarbeiterinnen mit Migrationshintergrund betreuen in einem Wohnprojekt junge Flüchtlinge.

"Sie ist genau wie meine Mutter."Dieser Satz aus dem Mund eines17-Jährigen ist meistens kein Kompliment. Aber bei Arshia Bahrami,dem jungen Mann mit dem hochgesteckten schwarzen Haar, ist das anders; da ist dieser Satz Ausdruck einer tiefen Sehnsucht. Er ist mit16 Jahren allein aus dem Iran geflohen und vermisst seine Mutter. Da ist eine Leerstelle in seinem Leben,die Banafsheh Behjou, eine Frau aus seinem Heimatland, auszufüllen scheint. Behjou, die im Iran groß geworden ist und als junge Erwachsene nach Deutschland kam, arbeitet bei Mondo, einem Wohnprojekt für minderjährige Flüchtlinge der Evangelischen Jugendhilfe Bochum. Dort betreut sie Arshia. Aber ihr offenes Lachen zeigt auch, dass sie den jungen Arshia, der nur vier Jahre älterist als ihre eigene Tochter, in ihr Herz geschlossen hat. "Ich kann vieles gut verstehen und mitfühlen", sagt sie. Ihre Kollegin Olia Porten ergänzt:"Ich bin keine Mutter, aber ich kann ein Vorbild für meine Schützlinge sein." Porten stammt aus Georgien.Sie sei wegen des Elends fortgegangenund habe hier eine gute Arbeit gefunden, so Porten. Das sage sie den jungen Geflohenen, wenn diese aufgrund der Schwierigkeiten in Deutschland nostalgisch würden und Heimweh bekämen.

Integration fordert Veränderung


Olia Porten und Banafsheh Behjou sind zwei Mitarbeiterinnen von Mondo. An der langen Tafel treffen sie und andere Kolleginnen auf Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik beim Diakonie Bundesverband, und Rainer Kröger, Vorstand des Diakonieverbundes Schweicheln, zu dem die Evangelische Jugendhilfe Bochum gehört. Mondo belegt eine Büroetage im Quartier am Förderturm, nahe dem Bergbaumuseum; die Sozialarbeiter und Sprachmittler haben hier ihre Büros. Der lange Tisch neben der offenen Küche gehört zum Freizeitbereich; hier gibt es zweimal in der Woche Essen für alle, die kommen wollen: junge Flüchtlinge zwischen 15 und 21 Jahren, die in Einzelwohnungen oder Wohngemeinschaften leben. Maria Loheide ist hier, weil sie die interkulturelle Öffnung als zentrales Zukunftsthema der Diakonie begreift: "Unsere Gesellschaft ist vielfältig - das muss sich auch in unseren Angeboten und in unserer Mitarbeitendenschaft widerspiegeln", sagt Maria Loheide. Integration bedeute nicht die Anpassung derer, die in eine Gesellschaft dazukommen, sondern gesellschaftliche Veränderungsprozesse und Teilhabe aller Menschen. Auch Institutionen müssten sich ändern, Zugangsbarrieren abbauen und das kulturelle, soziale und religiöse Miteinander lernen und gestalten.


Das passiert in der diakonischen Arbeit tagtäglich und diese vielfältigen Erfahrungen will die Bundesdiakonie aufgreifen, hören, was gut klappt und wo es Schwierigkeiten gibt: Rainer Kröger erinnert sich an die Jahre, als viele Flüchtlinge kamen. Da habe man in den Wohngruppen für Jugendliche das Schweinefleisch vom Speiseplan genommen. Das habe den Protest der deutschen Jugendlichen ausgelöst: Wir wollen aber Schweinefleisch. Warum wird auf die Neuen auf einmal viel mehr Rücksicht genommen? "Da haben wir auch Fehler gemacht", meint Kröger rückblickend. Das Ergebnis: Es gebe keine  Konzernstrategie" zum Thema Schweinefleisch, so Kröger, sondern das Thema werde vor Ort jeweils unterschiedlich gelöst; manchmal gebe es auch zwei unterschiedliche Essen. Michael Erz, Leiter der Evangelischen Jugendhilfe Bochum ergänzt: Es gehe nicht nur um Rücksicht auf religiöse Bräuche, sondern auch darum, dass Menschen beispielsweise aus ethischen oder ökologischen Gründen kein Fleisch äßen: Diversität sei also nicht nur eine Frage der Herkunft, sondern auch von frei gewählten Lebensentwürfen.

Wieviel Vielfalt kann eine Gesellschaft integrieren?


"Integration ist ein Aushandlungsprozess", bringt es Maria Loheide auf den Punkt. Die Ansprüche der verschiedenen Mitglieder einer Gesellschaft müssten immer wieder neu verhandelt werden. Das beträfe auch die Migrantinnen und Migranten, die schon seit zwei oder drei Generationen hier seien. Loheide verweist auf den Soziologen Aladin El-Mafaalani, der vom "Integrationsparadox" spricht. Wenn es Streit um die Integration von Migrantinnen und Migranten gebe, sei das ein Zeichen gelungener Integration. Diejenigen, die lange Zeit nur am "Katzentisch" gesessen, also unbemerkt in den Gastarbeitervierteln gelebt hätten, hätten nun auch am großen Tisch ihren Platz gefunden. Die Kinder der Gastarbeiter sind mit guter Bildung und entsprechenden Berufen in der Mitte der Gesellschaft angekommen.


Nun wollten sie auch mitreden darüber, was auf den Tisch komme. Das bedeute Streit - aber einen Streit, der nach El-Mafaalani notwendig sei und der zeige, dass die Integration durchaus
Fortschritte gemacht habe. Wer still am Katzentisch sitze, erscheine zwar friedlich, sei aber auch schlecht integriert. Ein Beispiel für die Öffnung hin zu Migrantengruppen, die schon lange in Deutschland sind, ist der bisher einzige deutsch-vietnamesische Kindergarten, der ebenfalls im Diakonieverbund Schweicheln beheimatet ist: in Berlin-Lichtenberg, bilingual mit rund 40 Prozent vietnamesisch und 60 Prozent deutschstämmigen Kindern. Rainer Kröger erzählt davon: Es sei nicht leicht gewesen, an die vietnamesische Community heranzukommen und vietnamesische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die KiTa zu gewinnen. Es gebe schlicht kaum Erzieherinnen oder Sozialpädagogen unter Vietnamesen. Diskussionen löste in der KiTa immer wieder das Thema der gewaltfreien Erziehung aus, die für die Arbeit der Einrichtung grundlegend, für viele Eltern in dieser Form aber neu war. Das Beispiel zeigt: Die Grenze der Toleranz wird erst sichtbar und thematisierbar, wenn es einen entsprechenden Begegnungsraum gibt zwischen den verschiedenen Mitgliedern einer Gesellschaft - also erst, um El-Mafaalanis Bild noch mal aufzugreifen, wenn alle am selben Tisch sitzen.

Vielfältige Mitarbeitende für eine vielfältige Diakonie


Für interkulturelle Öffnung braucht es in der Diakonie Mitarbeitende unterschiedlicher
Herkunft: Menschen wie Olia Porten und Banafsheh Behjou, die selber das mühsame Ankommen in einem fremden Land erlebt haben, können andere dabei besonders verständnisvoll begleiten. Und: Mitarbeitende mit einem anderen kulturellen Hintergrund senken Hemmschwellen bei denen, die neu dazukommen: "Wenn die Jugendlichen mich sehen, dann haben sie Vertrauen", meint Sourya Kalemba Wakamba; sie arbeitet als Sprach- und Kulturmittlerin bei Mondo und begleitet junge Flüchtlinge zu den Ämtern. Die dunkle Haut der gelernten Übersetzerin schafft eine schnelle Identifikation: Das ist eine, die uns versteht.

In der Diakonie war das kirchliche Arbeitsrecht lange Zeit ein Hemmschuh für eine vielfältige Mitarbeitendenschaft: Eigentlich sollten nur Protestanten beziehungsweise Mitglieder anderer christlicher Kirchen eingestellt werden; so sah es die sogenannte Loyalitätsrichtlinie vor. Seit Anfang 2017 gilt nun eine neue Fassung der Loyalitätsrichtlinie: Danach müssen nur noch die Dienststellenleitungen einer christlichen Kirche angehören. "Wir fordern die Zugehörigkeit zu einer Kirche nicht in den Ausschreibungen", so Michael Erz. Wichtig sei ihm bei einem Bewerbungsgespräch, dass man in einem christlich-humanistischen Menschenbild übereinstimme: dass alle Menschen die gleichen Chancen und den gleichen Respekt verdienten - unabhängig von Glaube, Herkunft und Geschlecht. Außerdem mache er die Erfahrungen, dass sich bei der Diakonie auch Nichtchristen bewerben würden, gerade weil sie diese Werteorientierung schätzten. Und Maria Loheide ergänzt, dass die Wertorientierung und das diakonische Profil sich in der Arbeit der Einrichtung ausprägen müssen.

Was würde Jesus dazu sagen?


Bei Mondo wurde ein Gebetsraum eingerichtet: Banafsheh Behjou, gelernte Grafikdesignerin und selber Muslima, hat die Wände, wie in Moscheen üblich, mit Ornamenten  bemalt; der Gebetsteppich ist nach Südosten ausgerichtet - ein Ort, an dem alle Jugendlichen, unabhängig
von ihrer Religionszugehörigkeit, zur Ruhe kommen können. Außerdem leitet Behjou das Projekt "Musik, Kunst und Religionen". Junge Flüchtlinge werden gemeinsam mit zwei Konfirmandengruppen kreativ und besuchen verschiedene Religionsgemeinschaften
im Ruhrgebiet. Diese Exkursionen liegen Behjou am Herzen und sind ihr auch selber
eine Inspiration: Für ihren eigenen Glauben finde sie in verschiedenen Religionen Anregungen. Ihr Schützling Arshia kommt aus einer christlichen Familie. Aber erst in Deutschland hat er sich taufen lassen; bald soll er auch konfirmiert werden. Behjou hilft ihm, dass sein Glaube auch vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anerkannt wird. Ob das für sie nicht merkwürdig sei, als Muslima einen jungen Christen bei der Konversion zu begleiten? Behjou lacht über die Frage und Arshia springt ein: "Jesus mag das, wenn man jemandem bei dem hilft, was er braucht."

Text: Christoph Fleischmann