Thesen zu zehn Jahren Hartz IV
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- Menschenwürdiges Existenzminimum
2015 ist die Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV) zehn Jahre in Kraft. Zehn Thesen setzt die Diakonie diesem denkwürdigen Jubiläum entgegen. Das Ziel: Menschenwürde und soziale Teilhabe verwirklichen.
Die Bibel betont das Recht der Armen und Ausgegrenzten auf Hilfe. Ihre Lebensgrundlage ist zu sichern. Dies ist Ausdruck ihrer Menschenwürde. Im christlichen Verständnis wurzelt die Menschenwürde darin, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist.
Zu dem Recht der Armen auf Sicherung der Lebensgrundlage haben wir den Theologen und Sozialethiker Franz Segbers befragt.
Soziale Rechte werden in zwischenstaatlichen Verträgen und Resolutionen vereinbart wie der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (wsk-Rechte) der Vereinten Nationen oder der europäischen Sozialcharta. Das neuzeitliche Menschenrecht ist ein universelles Recht, das nicht verdient werden muss. Es muss und kann nicht zuerkannt, sondern muss als gegeben anerkannt werden.
Mit Claudia Mahler, Expertin für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte im Deutschen Institut für Menschenrechte, sprachen wir über soziale Teilhabe.
Die Festlegung des soziokulturellen Existenzminimums muss auch diesen menschenrechtlichen Vorgaben genügen. Soweit Personen ihr Existenzminimum nicht selbst sichern können, wird es durch bedarfsgeprüfte Leistungen gewährleistet.
Mit dem Diakonie-Armutsexperten Michael David sprachen wir darüber, wie Menschen von 399 Euro im Monat leben sollen. Schwierig, sagt David – und erklärt, wie sich der Staat bei Hartz IV verrechnet hat.
Der Maßstab der Wirksamkeit von Hilfen ist die Verbesserung der sozialen Situation der Betroffenen. Die Erfolgsmessung darf nicht wie bisher anhand kurzfristiger arbeitsmarktpolitischer Vermittlungszahlen erfolgen.
Mit der Sozialwissenschaftlerin Natalie Grimm sprachen wir über Erfolgsmessung bei Menschen im ALG II-Bezug: Das System ist auf Kurzfristigkeit angelegt, sagt sie.
Der persönliche Anspruch auf existenzsichernde und soziale Integrationsleistungen und die Bekämpfung prekärer Beschäftigung müssen zentrale sozialpolitische Ziele sein. Diese sollen mit wirksamen Regelungen und Maßnahmen verbunden und geschlechtergerecht ausgestaltet werden. Die gegenwärtige Umsetzung der Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch II benachteiligt immer wieder Frauen, in besonderer Weise Mütter, und verfestigt traditionelle Rollen. Männer bekommen als vermeintliche Familienernährer oft bessere Unterstützungsangebote. Zudem befördern die Zumutbarkeitsregelungen prekäre Beschäftigung.
Wie Unterstützungangebote für Mütter aussehen können, zeigt diese Reportage über das diakonischen Projekt "Sina" in Hannover.
Die hohe Zahl der SGB-II-Leistungsbeziehenden ist auch eine Folge sozial-, steuer- und familienpolitischer Fehlsteuerungen. In der Familienpolitik muss die soziale Sicherung und Förderung des Kindes und nicht die steuerliche Entlastung der Familieneinkommen in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Arbeitsmarktpolitik muss sich an Prinzipien "guter Arbeit" orientieren. Dazu gehören neben der Auskömmlichkeit der erzielten Einkommen auch Schutz- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmerinnen, der Einbezug der Arbeitsverhältnisse in alle Zweige der Sozialversicherung sowie längerfristige Beschäftigungs- und Fortbildungsperspektiven.
Was der Staat für in Armut lebende Kinder tun muss, damit sie den Kreislauf von Armut und Ausgrenzung verlassen können, beantwortet Ulrike Gebelein, Referentin für Kinderpolitik und Familienförderung.
Die Leistungsberechtigten sind Träger von Rechten und Pflichten. Ihre Situation kann nur durch Beratung, Förderung, Ermutigung und persönliche Betreuung und die aktive Mitgestaltung durch die Betroffenen verbessert werden. Hilfeprozesse gegen den Willen der Leistungsberechtigten können nicht zum Erfolg führen.
Wie Förderung und Ermutigung aussehen kann zeigt das Projekt "coffee and work" der Diakonie. Hier kochen und servieren acht langzeitarbeitslose Menschen täglich frische Menüs. Wer hier in der Küche steht, arbeitet nicht nur für Kunden. Er feilt am Rezept seiner Zukunft. Lesen Sie hier weiter.
Das Existenzminimum darf durch Sanktionen nicht in Frage gestellt werden. Auch wer der gesellschaftlichen Vorgabe von Pflichten – aus welchen Gründen auch immer - nicht nachkommt, hat ein Recht darauf, dass seine Lebensgrundlage sicher bleibt. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg für positive Effekte von Sanktionen auf die Leistungsberechtigten. Sanktionen ignorieren die strukturellen Barrieren, die den längere Zeit Arbeitsuchenden den Zugang zum Arbeitsmarkt versperren. Sanktionen verschärfen Hunger und Wohnungsnot.
Im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Bundestages ist heute die Anhörung zu Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger. Dazu sagt Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland: "Hartz IV ist das Existenzminimum, das Menschen zum Leben brauchen. Das kann man nicht kürzen. Sanktionieren die Arbeitsagenturen trotzdem, treiben sie damit viele Menschen in existenzielle Armut bis hin zur Wohnungslosigkeit. Arbeitslose Menschen brauchen Hilfen, die an ihren persönlichen Notlagen ansetzen. Wir sollten ihnen Brücken in die Arbeitswelt bauen und nicht noch zusätzlich Steine in den Weg legen. Daher setzt sich die Diakonie Deutschland für die Abschaffung von Sanktionen und für bessere Hilfen für Langzeitarbeitslose ein: öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sowie Angebote zur beruflichen Qualifizierung und Weiterbildung arbeitsloser Menschen."
Stellungnahme zur Anhörung: Änderungen im SGB II - Sanktionen
Die Gewährleistung materieller Leistungen zur Existenzsicherung soll möglichst aus einer Hand erfolgen. Sie ist institutionell und konzeptionell von arbeitsmarktpolitischer Förderung zu trennen. Sozialberatung als drittes Element muss unabhängig, eigenständig, vertraulich, ermutigend und lebenslagenbezogen sein. Sozialarbeit braucht das Einvernehmen von Helfenden und Leistungsberechtigten. Die soziale Infrastruktur ist auszubauen.
Die Selbstorganisation der Betroffenen muss ein Kernziel einer reformierten Grundsicherung werden. Die Ermächtigung der Menschen (Empowerment) hat einen eigenen Stellenwert. Sie ist Grundlage für politische Beteiligung, Gestaltung der Gesellschaft und selbstbestimmtes Leben.
"Erwerbslose werden nur als Menschen mit Defiziten wahrgenommen und deswegen diskriminiert", sagt Michael David vom Zentrum Migration und Soziales der Diakonie Deutschland. Das Ziel der Diakonie sei es selbstbestimmte und selbstorganisierte gesellschaftliche Beteiligung zu ermöglichen. Ein Ansatz den die Gitschiner 15 seit 15 Jahren verfolgt. Die Idee: Wer sich der Muße hingibt, wer seine Kreativität auslebt, ist zum einen aktiv. Zum andern nimmt er sich Zeit wieder darüber klar zu werden, was er kann.
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