So normal wie möglich

28. Juli 2014
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  • Gesundheit und Pflege

Beim Projekt Wegbegleiter der Neanderdiakonie kümmern sich Paten um die Kinder von psychisch erkrankten Eltern. Auch Yasmin und Matthias As engagieren sich: für Marie und ihre an Schizophrenie erkrankte Mutter.

Eine Frau und ein Mann lächeln in die Kamera
© Diakonie/Thomas Becker

Yasmin und Matthias kümmern sich einmal pro Woche ehrenamtlich um Marie

Etwas nervös war Yasmin As schon. Marie*, 5 Jahre alt, würde gleich eintreffen. Yasmin und ihr Ehemann Matthias As wollten sich an diesem warmen Frühlingstag als neue Pateneltern um das Mädchen kümmern. Empathie, Taktgefühl und ein gutes Gespür für Nähe und Distanz waren jetzt gefragt. Keinesfalls wollte das Ehepaar die leibliche, an Schizophrenie erkrankte Mutter durch ein falsches Wort vor den Kopf stoßen. Und auch Marie sollte sich so wohlfühlen, wie es eben ging.

Yasmin und Matthias As, sie 39, er 41 Jahre alt, bauten das Planschbecken auf ihrer Terrasse auf und stellten Getränke bereit. Die Sonne brannte. “Ich habe dann Maries Beinchen mit Sonnenmilch eingecremt“, erzählt Yasmin As. “Plötzlich umarmte sie mich.“Es sei beruhigend gewesen und eine Erleichterung zu sehen, dass Marie, “süß und niedlich“, wie sie war, mit kindlicher Unbefangenheit auf ihre neuen Pateneltern reagierte. Zuviel Sympathie solle Marie aber auch nicht hegen, meint Yasmin As. Sonst würde sich ihre leibliche Mutter womöglich zurückgesetzt fühlen.

Kinder bilden auffälliges Verhalten aus

Die Patenschaft besteht seit gut einem Jahr. Eingebettet ist sie in das Projekt “Wegbegleiter für Kinder psychisch kranker Eltern“ der Neanderdiakonie in Ratingen. “Wenn Eltern psychisch krank sind, hat dies Auswirkungen auch auf die Kinder“, sagt Ingrid Esken, Leiterin für ambulante Jugendhilfe der Neanderdiakonie. “Sie fühlen sich oft allein gelassen, verstehen nicht, was um sie herum passiert und bilden möglicherweise selbst auffällige Verhaltensweisen aus.“

Zwei typische Phänomene haben Psychologen beobachtet: Manche Kinder kopieren zum einen das Sozialverhalten ihrer psychisch kranken Eltern und laufen Gefahr, ähnliche Muster auszubilden. Die “gelebte Vererbung“, so der Fachbegriff, birgt neben möglicher genetischer Veranlagung für Kinder ein zusätzliches Risiko.

Auffällig ist zweitens, dass manche Kinder schon früh Verantwortung übernehmen – als wären sie erwachsen und die Eltern ihrer Eltern. Als “Parentisierung“ bezeichnen Psychologen dieses Phänomen. “Viele dieser Kinder haben nicht die Möglichkeit, wichtige Phasen ihrer kindlichen Entwicklung zu durchleben“, sagt Sabine Weber, die das Wegbegleiter-Projekt der Diakonie in Ratingen koordiniert.

Verlässliche Paten für Kinder

Genau hier setzt das Projekt an. “Wir stellen den Kindern stabile und verlässliche Paten an die Seite. So bekommen Kinder die Möglichkeit, eine Beziehung zu Vertrauenspersonen außerhalb der Familie aufzubauen“, sagt Sabine Weber. Es tue Kindern unheimlich gut, diese “Inseln“ zu haben. Und Eltern – darunter meist alleinerziehende Mütter – würden im Alltag eine wichtige Entlastung erfahren.

Schätzungen zufolge sind bundesweit mehr als 3 Millionen Kinder und Jugendliche von der psychischen Krankheit eines Elternteils betroffen, in Ratingen sollen es rund 5.000 Kinder sein. 10 von ihnen profitieren seit gut einem Jahr von dem Wegbegleiter-Projekt. “Wir erreichen aber leider noch viel zu wenige Kinder“, meint Ingrid Esken.

Bis heute, ein Jahr nach dem Start des Ratinger Diakonie-Projekts, wurden 15 Ehrenamtliche auf ihre neue Aufgabe als Paten vorbereitet. Unter ihnen sind Rentner und größtenteils Berufstätige zwischen 30 und 65 Jahren. Manche haben selbst psychisch erkrankte Angehörige und wissen, wie wichtig stabile Beziehungspersonen sind, damit Kinder nicht zu tief in den Strudel dysfunktionaler Prozesse hineingezogen werden.

Wertschätzung für die Eltern

Damit Paten mehr über psychische Erkrankungen erfahren und die eigene Rolle in komplexen Beziehungen besser reflektieren können, bietet die Neanderdiakonie regelmäßig Vorträge von Experten an. “Bei aller Wertschätzung raten wir den Paten dazu, die Beziehung zu den Eltern nicht zu tief werden zu lassen“, meint Sabine Weber.

Daran ist auch dem Ehepaar As gelegen. “Wir versuchen den Kontakt zur Mutter möglichst knapp zu halten“, sagt Matthias As. Einmal pro Woche telefonieren Yasmin und Matthias As mit Maries Mutter und treffen Verabredungen für das Wochenende. "Anfangs wollten wir immer etwas Besonderes mit ihr unternehmen“, sagt Matthias As. Aber die Erfahrung habe gezeigt, dass Marie zufriedener ist, wenn sie bloß in den Alltag der beiden integriert wird. “Autowaschen ist für sie meist spannender als ein Besuch im Zoo.“

Die beiden nehmen Marie mit zum Einkaufen, machen Abstecher zum Spielplatz, kochen gemeinsam oder besuchen Freunde. “So normal wie möglich“, lautet ihr Grundsatz. Und doch: In Gesprächen mit Marie scheint immer wieder durch, dass die Mutter in ihrem Verhalten auffällig ist, jedenfalls in der Wahrnehmung des Ehepaars.

Gesundes Maß von Nähe und Distanz

Ins Detail möchten die beiden nicht gehen. “Man merkt, dass Marie aus problematischen Verhältnissen kommt“, sagt Yasmin As. “Gerade am Anfang, als ich sie abends wieder nach Hause gebracht habe, habe ich mir Sorgen gemacht, wie es ihr wohl den Rest der Woche ergehen würde. "Nach einigen Wochen habe sie aber gemerkt, dass es “ als Pate nicht mein Part ist, mich da reinzusteigern“. Schließlich gebe es ein Netz von Helfern: Das Sozialpsychiatrische Zentrum in Ratingen, das Jugendamt und andere Einrichtungen sind in das Wegbegleiter-Projekt einbezogen.

Im Laufe eines Jahres haben Yasmin und Matthias As das für sie gesunde Maß an Nähe und Distanz gefunden, mit dem die Patenschaft auf stabilen Füßen steht. “Das ist das Wichtigste“, sagt Matthias As. Schließlich gehe es in erster Linie nicht so sehr um die eigenen Befindlichkeiten, sondern um die von Marie.

“Für uns wäre es schade, wenn die Patenschaft endet, weil die Mutter zum Bespiel meint, wir täten ihrem Kind nicht gut.“ Aber für Marie wäre es ein sehr negativer Einschnitt in ihr Leben, wenn eine verlässliche Bindung abrupt endete, meint Matthias As. “Also verhalten wir uns so, dass möglichst wenig Reibungsflächen und Konfliktpotenziale entstehen.“

Solange Marie und ihre Mutter sie an der Seite wünschten, seien sie da, meinen beide. “Vielleicht sagt Marie später, wenn sie in der Pubertät ist, einmal: Ich habe keinen Bock mehr, euch zu sehen. Aber solange sie zu uns kommen möchte, sind wir für sie da.“

* Name geändert

Text: Diakonie/Thomas Becker