Nicht hilfebedürftig genug?

29. November 2016
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  • Bundesteilhabegesetz
  • Inklusion und Behindertenhilfe

Das Behindertenrecht wird moderner. Eigentlich ein Grund zur Freude. Aber – nicht jeder Mensch mit Behinderung wird Hilfe erhalten. 

Ein Mädchen und zwei Jungen
© Diakonie/Kathrin Harms

Mit dem BTHG sollen Barrieren überprüft werden, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behindern oder einschränken

Der Entwurf zum Bundesteilhabegesetz ist in der entscheidenden Abstimmungsphase. Ein Ziel des BTHG ist es, einen zeitgemäßen Begriff von Behinderung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gesetzlich zu verankern. Bisher denkt der Gesetzgeber bei dem Begriff "Behinderung" an einen Menschen mit einem medizinischen Defizit, der nicht der Norm entspricht. Wer also eine Spastik in den Beinen hat, wird durch dieses Defizit in seiner Bewegung behindert. Man könnte auch sagen, dass diese Behinderung sein ständiger Begleiter ist, ob er nun schläft, arbeitet oder fernsieht. Anhand eines ganzen Kataloges solcher medizinischer Faktoren kann festgestellt werden, ob der Betroffene das Recht hat, aufgrund seiner Behinderung Eingliederungshilfe zu beantragen.

Das BTHG versucht nun einen neuen Gedanken zu formulieren. Anstatt Schwächen beim Menschen zu suchen, wird überprüft, ob es Barrieren in seiner Umwelt gibt, die ihn bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben behindern oder einschränken: Mit welchen Hindernissen also ist ein Rollstuhlfahrer bei der Ausübung seines Ehrenamts konfrontiert? Braucht er einen Fahrdienst, um abends den Chor besuchen zu können? Oder benötigt der Taubstumme einen Gebärdendolmetscher, um Vorlesungen an der Universität zu besuchen?

Das neue Verfahren für die Leistungen zur Teilhabe

Leistungen zur Teilhabe (bisher "Eingliederungsleistungen") sind solche Hilfen, die nicht unter die medizinische Versorgung beziehungsweise Pflege fallen. Dabei handelt es sich um individuell angepasste Unterstützung bei Aktivitäten in allen Lebensbereichen: von der Hilfe beim Verlassen der eigenen Wohnung bis hin zur Assistenz am Arbeitsplatz oder dem Ausüben von Hobbys und Sport. Auch technische Hilfsmittel können auf diesem Weg finanziert werden.

Zukünftig wird geprüft, in welchen Bereichen des Lebens Barrieren bestehen, die es mittels technischer oder personeller Unterstützung zu überwinden gilt. Es geht um die Bereiche

  • Lernen und Wissensanwendung
  • Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
  • Kommunikation
  • Mobilität
  • Selbstversorgung
  • Häusliches Leben
  • Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
  • Bedeutende Lebensbereiche
  • Gemeinschaft, soziales und staatsbürgerliches Leben

Die momentan geplanten Zugangsvoraussetzungen sind heftiger Kritik ausgesetzt. Das BTHG sieht vor, dass Betroffene Behinderungen bei der Ausführung von Aktivitäten in mindestens fünf dieser Lebensbereiche nachweisen müssen, die sie nur mittels technischer oder personeller Unterstützung überwinden können (Zugangsregel 5 aus 9). Alternativ würden auch drei Lebensbereiche ausreichen, in denen Aktivitäten auch mit Hilfsmitteln und Assistenzen nicht ausführbar sind (Zugangsregel 3 aus 9).

Hohe Hürden für den Rechtsanspruch

Was heißt das konkret für die Betroffenen? Wer wird von den neuen Regelungen profitieren und wem wird ein Zugang zum Hilfesystem erschwert?

Maik Tiedtke vom Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe macht sich Sorgen, dass das Gesetz Betroffene mit geringem Hilfsbedarf von Leistungen ausschließen könnte. Als Interessenvertreter im Beirat der Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung hält er die Zugangshürden für zu hoch und zu unflexibel, um vor allem kognitiven Einschränkungen gerecht zu werden.

Denn gerade diese Menschen trainieren zum Beispiel oft jahrelang den Weg zum Arbeitsplatz, bis sie in der Lage sind, ihn ohne fremde Hilfe zu gehen. Unbekannte Wege können sie jedoch nicht allein bewältigen. "Es könnte sein, dass sie dadurch zu selbständig geworden sind, um auf insgesamt fünf eingeschränkte Lebensbereiche zu kommen und einen Rechtsanspruch auf Leistungen zu haben. Im Grunde genommen würden sie für ihre hart erkämpfte Selbständigkeit bestraft", befürchtet Maik Tiedtke.

Auch viele psychisch Erkrankte passen gar nicht in ein langfristig angelegtes Bewertungsschema. Wenn sich jemand in einer Phase befindet, in der er sich zu Hause isoliert, dann unternimmt er gerade kaum Aktivitäten. Hilfe in wenigen Lebensbereichen zu brauchen, oder sogar nur in einem einzigen, kann also auch ein Zeichen dafür sein, dass jemand sehr dringend diese Hilfe benötigt.

Unterschiede in den einzelnen Bundesländern

Problematisch ist die geplante Regelung auch für Menschen mit Sinnesbehinderungen: Oft sind hier nur einzelne Bereiche des Lebens von Barrieren betroffen. Auch sie hätten nach der neuen Regelung keinen verbindlichen Rechtsanspruch mehr auf Teilhabeleistungen.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales versucht diese Bedenken mit dem Argument zu entkräften, es gebe einen Ermessensspielraum für solche Fälle, sodass Betroffene mit einer "wesentlichen Behinderung" trotzdem auf Hilfe hoffen könnten. Diese Regelung kann jedoch von Bundesland zu Bundesland und von Fall zu Fall unterschiedlich ausgelegt werden. Um einen verbindlichen Rechtsanspruch auf Leistungen zu haben, muss man die beschriebenen Zugangsvoraussetzungen erfüllen. Sollte festgestellt werden, dass jemand in nur vier Lebensbereichen Unterstützung benötigt, dann könnte man ihm genau diese verwehren.

Die WHO hat schon 2001 eine "Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" (ICF-Kriterien) erarbeitet. Mit diesen Kriterien ist es möglich, die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Menschen differenziert und unter Berücksichtigung von Umweltfaktoren zu beschreiben. Das bedeutet: Alle Aktivitäten, die ein Mensch unternimmt, werden daraufhin untersucht, ob er dabei auf Barrieren stößt, die seine Teilhabe einschränken. Auch die oben genannten neun Lebensbereiche leiten sich von diesen Kriterien ab. Die Sozialverbände bewerten die Verwendung dieser Kriterien als notwendigen Schritt und im Sinne der von Deutschland unterzeichneten UN-BRK als richtig. Es wird dadurch möglich, Behinderungen individuell und detailliert zu erfassen.

Man kann jedoch mit ihrer Hilfe nicht messen, wie schlimm diese Einschränkungen für den Betroffenen sind. Die Zugangsregeln aus dem Gesetzentwurf, so die Kritiker, legten willkürlich fest, was akzeptabel sei und was nicht. So könnten die ICF-Kriterien möglicherweise für etwas verwendet werden, wofür sie nicht gedacht waren: Die Möglichkeit, behinderten Menschen Teilhabeleistungen zu verweigern.

Text: Diakonie/Benjamin Wolgast