Nachgefragt zum Bundesteilhabegesetz 2020
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Ab Januar 2020 treten weitere wichtige Änderungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Kraft. Welche Leistungen Menschen mit Behinderung bekommen und wie sie durch den Antragsdschungel steigen, erläutert der Leiter des Zentrums für Gesundheit, Rehabilitation und Pflege Peter Bartmann im Interview.

Peter Bartmann, Leiter des Zentrums für Gesundheit, Rehabilitation und Pflege
Die neuen Regelungen sind kompliziert. Wer hilft Menschen mit Behinderungen, zu verstehen, welche Leistungen ihnen aus dem BTHG zustehen?
Peter Bartmann: Für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen gibt es in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB). Sie ist unabhängig und wird von Menschen mit Behinderung geleistet, die sich in die Lage der Ratsuchenden besser hineinversetzen können als unbeeinträchtigte Menschen. Die EUTB bietet keine Rechtsberatung und unterstützt auch nicht bei der rechtlichen Durchsetzung von Leistungsansprüchen. Die EUTB ergänzt die Beratung, die die Träger und die Erbringer von Leistungen im Rahmen ihrer Tätigkeit leisten (müssen).
Die durch das BTHG geschaffene Rechtslage ist komplex und stellt Menschen mit Behinderung und ihre Betreuer gegenwärtig vor große Herausforderungen. Sie können ihre individuellen Rechte besser wahrnehmen, müssen sich aber auf Verfahren mit Behörden einstellen, die mit dem BTHG ein neues Verwaltungsrecht erhalten haben.
Was ändert sich bei den Leistungen zur Teilhabe in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Alltag und Bildung?
Bartmann: Leistungen zur Teilhabe werden jetzt stärker auf die jeweilige Person hin ausgerichtet. Sie orientieren sich nicht mehr an der Wohnform (Einrichtung, betreutes Wohnen, Privathaushalt), sondern werden am individuellen Bedarf und den persönlichen Zielen ausgerichtet, aber auch am Umfeld, in dem der Mensch mit Behinderung lebt oder leben will.
Zum Beispiel: Zwei Menschen mit ganz ähnlichen Beeinträchtigungen wollen ganz unterschiedlich leben: Herr Meyer ist sportinteressiert und Mitglied eines Fanclubs. Für ihn ist der Besuch von Sportwettkämpfen besonders wichtig. Herr Müller ist ein sehr zurückgezogener Mensch, der nicht gerne in Gruppen ist. Für ihn ist eine individuelle Unterstützung bei der Aufnahme von sozialen Kontakten wichtig. Außerdem würde er sehr gerne in der Nähe seiner Schwester wohnen. Die unterschiedlichen Bedürfnisse werden nun bei der "Bedarfsfeststellung" durch den Träger der Eingliederungshilfe stärker berücksichtigt.
Unterschieden wird zwischen den Leistungen zur sozialen Teilhabe, also der Unterstützung beim Wohnen und Alltag in der Gesellschaft, den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (zum Beispiel in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, bei einem Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes mit einem besonderen sozialen Auftrag (Inklusionsunternehmen), der Teilhabe an Bildung (Schule, Ausbildung, Hochschule).
Neu ist, dass die existenzsichernden Leistungen (Lebensunterhalt und Wohnung) von den sogenannten Fachleistungen der Eingliederungshilfe getrennt werden.
Während früher Menschen in Heimen der Behindertenhilfe eine komplette Versorgung und ein Taschengeld erhielten, beziehen sie jetzt meistens Leistungen der Grundsicherung und nehmen Fachleistungen in Anspruch. Für Wohnen und Verpflegung müssen sie ab 1.1.2020 bezahlen - aus ihrem Arbeitseinkommen, Vermögen (sofern vorhanden) oder aus den Leistungen der Grundsicherung, die sie bei Bedarf wie andere Bürgerinnen und Bürger erhalten.
Eine wichtige Errungenschaft für wirtschaftlich leistungsfähige Menschen mit Behinderung ist das deutlich erhöhte Schonvermögen (56.000 €), das bei der Beantragung von Teilhabeleistungen nicht angegriffen werden muss.
Wie bekommen Menschen mit Behinderung die Leistungen, die sie brauchen?
Bartmann: Sie stellen, gegebenenfalls mit einem rechtlichen Betreuer, einen Antrag und durchlaufen ein Verfahren beim Träger der Eingliederungshilfe. In einigen Bundesländer ist dieser der Landkreis, in anderen eine Landesbehörde. In diesem Verfahren ("Gesamtplanverfahren") wird der individuelle Bedarf an Leistungen zur Teilhabe festgestellt. Es wird also festgelegt, welche Leistungen der Mensch mit Behinderung erhält. Der Umfang ist bei jedem Menschen anders, je nach Schwere der Beeinträchtigung.
Neu ist die direkte Einbeziehung des Leistungsberechtigten, der seine Anliegen, gegebenenfalls mit Unterstützung im Gesamtplanverfahren beim Träger der Eingliederungshilfe vortragen muss. Das ist eine große Chance und Herausforderung für Menschen mit Behinderung.
Wenn neben den Teilhabeleistungen (Wohnen, Arbeit, Alltag) die zu den Leistungen der Eingliederungshilfe gehören, auch Leistungen zum Beispiel der Pflegeversicherung, Renten- oder Krankenversicherung in Frage kommen, werden die Sozialversicherungsträger in das Verfahren einbezogen (das dann Teilhabeplanverfahren heißt).
Was ändert sich bei der Ausbildung und Arbeit?
Bartmann: Bislang arbeiten sehr viele Menschen mit Behinderung in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Dort haben sie einen hohen sozialen Schutz, sind aber vom normalen Arbeitsleben weitgehend getrennt. Das Bundesteilhabegesetz sichert den Sozialschutz der Menschen, die in der Werkstatt arbeiten ab und eröffnet ihnen bessere Möglichkeiten, in normalen Betrieben zu arbeiten. Sie reichen vom "Außenarbeitsplatz" der Werkstatt in einem normalen Unternehmen bis hin zu einem individuell angepassten Arbeitsverhältnis, bei denen die Teilhabeleistungen in Form des persönlichen Budgets und des Budgets für Arbeit bereitgestellt werden. Das Budget hängt vom individuellen Bedarf ab.
Auch in der Ausbildung sollen Menschen mit Behinderung neue Möglichkeiten erhalten und möglichst oft Kompetenzen erwerben und nachweisen können, die im normalen Arbeitsleben zum Einsatz kommen. Dabei geht es um die berufliche Bildung, aber auch um den Besuch von Fachschulen und Hochschulen, der durch Assistenzleistungen erleichtert wird. Der Bedarf wird ebenfalls im Gesamtplanverfahren ermittelt.
Was bedeuten die Veränderung für jemanden, der zu Hause wohnt?
Bartmann: Wer bisher schon in einer eigenen Wohnung lebt und Assistenzleistungen in Anspruch nimmt, für den ändert sich wenig, weil die Fachleistungen schon bisher getrennt von der Existenzsicherung erbracht werden. Aber er oder sie profitiert gegebenenfalls von einer besseren Erfassung des individuellen Bedarfs und dem höheren Schonvermögen.
... für jemanden, der bisher stationär wohnt?
Bartmann: Wer in einer Einrichtung wohnt, muss sich darauf einstellen, den Lebensunterhalt und die Miete über ein eigenes Konto selbst in die Hand zu bekommen - und der Einrichtung Miete und Kosten für Verpflegung und andere Leistungen zu zahlen. Das bedeutet mehr Autonomie, ist aber auch mit neuen Aufgaben verbunden, die der Bewohner oft gemeinsam mit seinem gesetzlichen Betreuer erledigen muss.
Die Grundlage ist ein Vertrag nach dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG), den er mit der Einrichtung abschließt.
Die Feststellung des individuellen Bedarfs ist für die Bewohner der stationären Wohnangebote ein großer Schritt: Sie selbst sollen sagen, wie sie leben möchten und was sie dafür brauchen. Das bietet die Chance einer individuelleren Lebensgestaltung, ist aber auch ein großer Schritt, wenn man bislang immer in einer Gruppe unterwegs war.
Was bedeutet dies für die Einrichtungen?
Bartmann: Stationäre Einrichtungen, die jetzt besondere Wohnformen genannt werden, müssen mit ihren Bewohnern Verträge nach dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) abschließen. Da die existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen zur Teilhabe getrennt werden, müssen die Kosten für das Wohnen und die Verpflegung getrennt von den Fachleistungen erfasst und in Rechnung gestellt werden. Dazu müssen Gebäude vermessen und Leistungsbereiche getrennt werden.
Die Fachleistungen müssen stärker am individuellen Bedarf ausgerichtet werden, der (s.o.). im Gesamtplanverfahren festgestellt wird. Gruppenangebote müssen daraufhin überprüft, ob sie dem individuellen Bedarf entsprechen.
Es sollen auch mehr ambulante Angebote entstehen. Besteht die Sorge, dass in Einrichtungen dann nur noch schwerstbehinderte Menschen leben?
Bartmann: Die gemeinschaftliche Wohnform empfiehlt sich, wenn man mit anderen Menschen zusammenleben will, oder wenn man aufgrund der Beeinträchtigung eine Fachkraft im Hintergrund braucht, die 24 Stunden im Haus ansprechbar ist. Aber auch andere Gründe können eine Rolle spielen, zum Beispiel ein geschütztes Gelände, auf dem man sich frei bewegen kann.
Die Vorstellung, das besonders schwer behinderte Menschen generell in Großeinrichtungen untergebracht werden, weil sie anderswo gar nicht leben können, ist abzulehnen. Der Veränderungsprozess bei den Wohnformen wird viele Jahre dauern - und das Spektrum der Angebote auch für sehr stark beeinträchtigte Menschen erweitern.
Was ist aus Sicht der Diakonie besser / schlechter geworden?
Bartmann: Das neue Gesetz ist in der Umsetzung sehr kompliziert. Das wirkt sich auf die Lebenssituation der Menschen mit Behinderung aus, die zum Beispiel noch nicht wissen, über wieviel Bargeld sie nach neuer Rechtslage frei verfügen können. Viele langjährige Betreuer erklären sich für überfordert angesichts vieler Detailfragen.
Erst in einigen Jahren wird man erkennen können, in welchem Maße Menschen mit Behinderung durch Leistungen der neuen Eingliederungshilfe in ihrer Teilhabe gefördert werden. Die übergreifenden Zielsetzungen des Gesetzgebers sind positiv, die Komplexität des Bundesgesetzes und seiner (unterschiedlichen) Umsetzung in den Bundesländern ist kritisch zu beurteilen.
Langfristig besteht die größte Herausforderung darin, die Orientierung am individuellen Bedarf tatsächlich zu verwirklichen. Ihm stehen das Wirtschaftlichkeitsgebot des Leistungsträgers und die Dienstleistungsprozesse der Leistungserbringer gegenüber.
Redaktion: Diakonie/Anieke Becker, Justine Schuchardt