Nachgefragt: Sucht im Alter ist ein Tabuthema

12. Dezember 2013
  • Journal
  • Gesundheit und Pflege
  • Sucht im Alter

Immer mehr ältere Menschen sind abhängig von Alkohol oder Medikamenten. Warum ihre Sucht jedoch oft erst zu spät erkannt wird und was dagegen getan werden kann, erläutert Katharina Ratzke.

Warum werden Suchtprobleme bei älteren Menschen häufig gar nicht oder erst sehr spät wahrgenommen?

Katharina Ratzke: Ältere Menschen zeigen ihren Suchtkonsum in der Regel nicht so in der Öffentlichkeit wie beispielsweise Jugendliche, die sich irgendwo öffentlich zum Trinken treffen und alleine dadurch viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Weil ältere Menschen nicht mehr berufstätig sind, fehlt auch die soziale Kontrolle, die am Arbeitsplatz durch die Kollegen ein Stück weit vorhanden ist. Zudem leben viele ältere Menschen sehr zurückgezogen, zum Teil isoliert, so dass eine Sucht dem sozialen Umfeld gar nicht auffällt.

Selbst wenn aber jemand erkennt, dass Verhaltensweisen merkwürdig sind, lässt sich nur schwer einordnen: Ist dies eine Begleiterscheinung des Alterungsprozesses oder eine beginnende Depression? Sind es Anzeichen einer Demenz oder eben Folgen einer Abhängigkeit von Alkohol oder Medikamenten?

Ein weiterer Grund: Viele ältere Menschen haben sehr viel Scham, sich und anderen einzugestehen, dass sie suchtkrank sind. Anfangs haben sie auch mehr Probleme, sich professionelle Hilfe zu suchen als jüngere Menschen.

Was muss getan werden, um älteren suchtkranken Menschen früher und besser zu helfen?

Ratzke: Am wichtigsten ist aus Sicht der Diakonie, erst einmal ein Bewusstsein für dieses Problem und dessen Ausmaß zu schaffen. Denn Sucht im Alter ist nach wie vor ein gesellschaftliches Tabuthema. Wie lässt sich Sucht bei älteren Menschen erkennen? Was unterscheidet eine Depression oder eine Demenz von den möglichen Folgen einer Abhängigkeitserkrankung? Es mussin Betracht gezogen werden, dass auffällig veränderte Verhaltensweisen auch eine Folge von Suchterkrankungen oder Ausdruck einer psychischen Störung sein können. Gleichzeitig gibt es bisher kaum Informationen darüber, dass Ältere sehr von professioneller Hilfe profitieren können. Lange Zeit galt eine Art therapeutischer Nihilismus: Man glaubte, ältere Menschen seien in ihren Verhaltensweisen schon so eingefahren, dass es schwer sei, Veränderungen herbei zu führen. Das ist inzwischen widerlegt. Man weiß, dass ältere Menschen, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen, sehr wohl davon profitieren. So haben einzelne Studien gezeigt, dass ältere Patienten zufriedener mit der Behandlung sind und währenddessen weniger Rückfälle haben als jüngere.

Zentral ist auch die Frage, wie wir ältere suchtkranke Menschen überhaupt erreichen können. Suchthilfe muss sehr viel mehr an Orte gehen, an denen sich ältere Menschen aufhalten, und darf nicht davon ausgehen, dass sich die Betroffenen von sich aus an die Suchtberatungsstellen wenden.

Wie sensibilisiert die Diakonie Politik und Gesellschaft für Sucht im Alter?

Ratzke: Die Diakonie macht sich bereits seit Jahren dafür stark, das Thema mehr in die Öffentlichkeit zu rücken. Ergebnis eines Projektes zu diesem Thema aus dem Jahr 2008 waren konkrete Handlungsempfehlungen, insbesondere für eine bessere Vernetzung von Sucht- und Altenhilfe. Das Bundesministerium für Gesundheit hat unsere Ideen aufgegriffen und Modellprojekte zur Sensibilisierung und Qualifizierung von Fachkräften in der Sucht- und Altenhilfe ausgeschrieben. In diesen Modellprojekten wurden beispielsweise Schulungs- und Fortbildungskonzepte für Mitarbeitende aus der Sucht- und der Altenhilfe entwickelt. Allerdings erreichen wir durch die Vernetzung von Sucht- und Altenhilfe vor allem Menschen, die bereits Angebote der stationären oder ambulanten Altenhilfe nutzen. Die große Mehrheit der älteren Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen lebt aber in ihrer eigenen Wohnung. Um auch diese Senioren zu erreichen, lädt die Diakonie jetzt zu Bewerbungen für Projekte ein. Wir fördern zum einen Kooperationen der offenen und der kirchlichen Altenarbeit mit dem Suchthilfesystem. Zum anderen fördern wir über die Bewerbung Projekte, die Suchthilfe mit dem Gesundheitssystem vernetzen, also beispielsweise Fortbildungen für Hausärzte oder Rettungsstellen zum Thema Sucht im Alter. Denn: Gerade wenn ältere Menschen sehr isoliert leben, sind es häufig die Hausärzte oder Rettungsstellen in Krankenhäusern, die die Sucht noch am ehesten bemerken können.

Interview: Diakonie/Sarah Schneider 

Interviewpartnerin

© Hermann Bredehorst

Dr. Katharina Ratzke

Sozialpsychiatrie und Suchthilfe

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