Nachgefragt: Soziale Schuldnerberatung verschafft überschuldeten Menschen wieder Luft zum Atmen

4. Juni 2021
  • Journal
  • Armut und Arbeit

Verschuldung ist immer auch eine menschliche Katastrophe. Dies ist Fokus der bundesweiten Aktionswoche Schuldnerberatung „Der Mensch hinter den Schulden“ vom 7. bis 11. Juni.  Warum soziale Schuldnerberatung, wie die der Diakonie, stets den gesamten Menschen in den Blick nimmt und was verbessert werden müsste, erklärt Matthias Bruckdorfer, Schuldnerberatungs-Experte der Diakonie.

Illsutration aus einem Menschen, dessen Shirt sich auflöst
© Diakonie/Francesco Ciccolella

Überschuldete Menschen erleben ihre Situation meist als sehr bedrohlich. Bei der sozialen Schuldnerberatung geht es sowohl um die finanziellen Schwierigkeiten als auch um psychosoziale Themen.

Was ist das Anliegen der sozialen Schuldnerberatung, wie sie auch die Diakonie anbietet?

Matthias Bruckdorfer: Die Beratungsstellen der Diakonie arbeiten nach dem Konzept der sozialen Schuldnerberatung. Im Beratungsprozess geht es sowohl um die finanziellen Schwierigkeiten als auch um psychosoziale Themen. Überschuldete Menschen beziehungsweise Familien erleben ihre Situation meist als sehr bedrohlich, da ihre ganze Existenz gefährdet ist. Viele reagieren tief verunsichert, haben massive Zukunftsängste, geraten zunehmend unter Stress und wissen keinen Ausweg mehr. Sie fühlen sich ohnmächtig und hilflos, bis hin zur Resignation. Unter dieser Last die Post nicht mehr zu öffnen, das Problem nicht mehr sehen zu wollen und zu verdrängen, ist zwar verständlich, aber nicht hilfreich. Fast alle Überschuldeten haben das Gefühl, Schuld zu sein und versagt zu haben. Sie schämen sich und zögern deshalb meist viel zu lange, bis sie sich Hilfe suchen. Viele halten dem Druck nicht stand und werden krank. Depressionen und andere psychosomatische Leiden sind keine Seltenheit.

Diese Abwärtsspirale können Schuldnerberaterinnen und Schuldnerberater stoppen und den Betroffenen so wieder Luft zum Atmen verschaffen. Sie helfen zunächst, die Existenz zu sichern, und nehmen dadurch schon viele Ängste. Dann besprechen und reflektieren sie gemeinsam mit den Betroffenen deren Lebenslage, um realistische Wege aus der Krise zu finden. Überschuldete entwickeln so neue Perspektiven und übernehmen Schritt für Schritt wieder die Kontrolle über ihren Alltag. Wichtig ist, dass zwischen Ratsuchenden und Schuldnerberaterinnen und -beratern eine vertrauensvolle Beziehung entsteht. Dann ist es möglich, den Menschen Mut zu machen, ihre Angelegenheiten perspektivisch wieder selbst in die Hand zu nehmen. Die professionelle Information und Unterstützung hilft überschuldeten Menschen, wieder sozial handlungsfähig und sicher im Umgang mit den eigenen Finanzen zu werden. Es ist auch Aufgabe von Beratung, mit neu auftretenden Problemen und Rückschritten umzugehen. Soziale Schuldnerberatung hat grundsätzlich das Ziel, soziale Teilhabe auch für Überschuldete zu sichern und ihnen zu helfen, eine für sie zufriedenstellende Lebenssituation zu erreichen.

Matthias Bruckdorfer
© Hermann Bredehorst

Matthias Bruckdorfer ist Referent für allgemeine Sozialarbeit der Diakonie und Schuldnerberatung bei der Diakonie Deutschland.

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Auslastung und die Arbeit der Schuldnerberatungsstellen ausgewirkt?

Bruckdorfer: Fachlich unstrittig ist, dass die Covid-19-Pandemie viele Menschen in finanzielle Schwierigkeiten bringt. Gerade Grundsicherungsempfängerinnen und -empfänger sowie Menschen mit geringem Einkommen trifft die Pandemie besonders hart. Die staatlichen Hilfen sind und waren für diese Menschen völlig unzureichend. Unstrittig ist auch, dass dadurch der Bedarf an Schuldnerberatung gestiegen ist und weiter wachsen wird. Dieser steigende Beratungsbedarf hat sich noch nicht überall in steigenden Anfragen von Betroffenen niedergeschlagen. Das hat unterschiedliche Gründe. Steigende Fallzahlen treten oft erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung nach Krisenereignissen ein. Das war auch bei der Finanzkrise 2008/2009 zu beobachten. Bevor Menschen sich an eine Schuldnerberatung wenden, nutzen sie zunächst andere Mittel. Viele greifen – wenn vorhanden –  auf ihre Ersparnisse zurück oder leihen sich Geld im privaten Umfeld. Das fällt den meisten gerade jetzt leichter, weil es ja mit der Pandemie einen nachvollziehbaren Grund außerhalb ihrer Verantwortung gibt. Wahrscheinlich ist auch, dass viele aus Angst vor Ansteckung den Gang zur Schuldnerberatungsstelle scheuen. Die Menschen halten sich also irgendwie über Wasser. Und in der Tat vergeht ja auch eine längere Zeit, bis die Folgen dramatisch spürbar werden und der Gerichtsvollzieher schließlich vor der Tür steht. Das ändert aber nichts daran, dass die Fallzahlen im Laufe des Jahres in allen Regionen steigen werden.

Was muss nach Ansicht der Diakonie noch verbessert werden, um überschuldeten Menschen wirksamer helfen zu können?

Bruckdorfer: Das Konzept der sozialen Schuldnerberatung ist aus fachlicher Sicht sehr gut geeignet, überschuldeten Menschen wirksam und nachhaltig zu helfen. Alle sollten daher einen offenen Zugang zur gemeinnützigen Schuldnerberatung haben, und zwar unabhängig von ihrem Einkommen. Das ist aber immer noch nicht überall und für alle realisiert. So werden beispielsweise Erwerbstätige aus formalen Gründen oft nicht beraten, obwohl es aus fachlich-präventiver Sicht dringend geboten wäre – auch, damit sich die Situation nicht verschlimmert. Hier muss der Gesetzgeber dringend handeln. Gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) fordert die Diakonie seit langem einen individuellen Rechtsanspruch auf Beratung. Zudem muss die Schuldnerberatung endlich bedarfsgerecht finanziert werden. Es kann nicht sein, dass wir mit der sozialen Schuldnerberatung ein wirksames und nachhaltiges Konzept haben, um private Überschuldung zu vermeiden und zu überwinden, die Finanzierung aber nur zur Beratung von 10 bis 15 Prozent der Überschuldeten ausreicht. Hier wird auch verkannt, dass Schuldnerberatung ein effektives Instrument ist, um Armut zu bekämpfen und ganzen Familien zu helfen. Die chronische Unterfinanzierung kommt den Staat teuer zu stehen. Denn die sozialen Folgekosten übersteigen die Kosten für eine bedarfsgerechte Beratung um ein Vielfaches.

Interview: Diakonie/Sarah Spitzer