"Mehr Samariter wagen!"

12. September 2018
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Eine Entdeckertour durch die Landschaft Sozialer Unternehmen

Angebot und Nachfrage sind klassische Konzepte der Marktwirtschaft. Was aber, wenn die Nachfrage zwar besteht, die Entwicklung von Angeboten aber kostspielig ist und die rein marktwirtschaftliche Finanzierung nicht gesichert ist? Hier kommen die Sozialen Unternehmen ins Spiel. Im September 2018 machten sich Interessierte der Diakonie auf eine Entdeckertour.

Auf Rädern zum Essen (Intra Lab der Mission Leben)

Essen auf Rädern ist fast jedem ein Begriff. Die Diakonie Limburg dreht das Konzept um. „Auf Rädern zum Essen“ heißt das Projekt, das im Alten- und Pflegeheim Wichernstift entwickelt wurde. Die Menschen, die Essen auf Rädern bekommen, sind oft isoliert und fühlen sich einsam, berichtet Caroline Glaab vom Wichernstift. „Ihr größtes Highlight ist es, wenn unsere Fahrer vorgefahren kommen und ihnen das Essen reinbringen. Sie sprudeln regelrecht vor Freude, leben für den Moment auf und möchten am liebsten einen kurzen Tratsch mit ihnen abhalten, nur damit sie nicht mehr alleine sind und dadurch soziale Kontakte pflegen können.“ Allerdings stehen die Fahrer meist unter Zeitdruck, weil noch andere Kunden beliefert werden müssen. So kamen die Verantwortlichen der diakonischen Einrichtung auf die Idee: „Wir holen die Kunden von zu Hause ab, bringen sie ins Wichernstift zum Mittagstisch zusammen mit den Bewohnern des Hauses und haben im Anschluss daran ein Unterhaltungs- bzw. Betreuungsprogramm.“ Unterstützt wird das Projekt vom INTRA Lab der Mission Leben, an dem die Stiftung Liebenau, die Diakonie Neuendettelsau und die Diakonie Hessen beteiligt sind.

Der „Ichó“-Ball (Ichó-Systems Duisburg)

Vergnügt reichen die älteren Damen und Herren in der Runde den kleinen Ball herum. Sie streicheln und drücken ihn und kichern überrascht, wenn er in verschiedenen Farben leuchtet oder Musik erklingt. Der Ball heißt „ichó“ und ist ein Therapiemittel für Demenzkranke. Entwickelt wurde er vom sozialen StartUp „Ichó-Systems“ in Duisburg.

Untersucht man digitale Startups im Gesundheitswesen, trifft man direkt auf Apps, Tablets und Digitaldevices. Ein Großteil der Menschen, die mit diesen Geräten und Anwendungen arbeiten, gepflegt oder beschäftigt werden sollen, fehlt es aber an Affinität zu komplexen digitalen Geräten, sagt Eleftherios Efthimiadis, einer der drei Gründer von „Ichó-Systems“. Es bestehe sogar eher eine Abneigung dagegen. „Klar kann man mit einem Tablet alles Mögliche machen, aber für die betroffene Generation ist das nur ein schwarzer Spiegel. Einen Ball dagegen hatte jedes Kind schon mal in der Hand.“

Soziales Unternehmertum

Das INTRA Lab und das Ichó-StartUp waren zwei der Beispiele, die bei einer zweitägigen Exkursion „Soziale Innovationen von Social Entrepreneuren“ der Diakonie Deutschland im September 2018 vorgestellt wurden. Angebot und Nachfrage sind klassische Konzepte der Marktwirtschaft. Was aber, wenn die Nachfrage zwar besteht, die Entwicklung von Angeboten aber kostspielig ist und die rein marktwirtschaftliche Finanzierung nicht gesichert ist? Hier kommen die Sozialen Unternehmen ins Spiel.

„Diakonische Einrichtungen erfüllen in Qualität, Quantität und mit protestantischer Berufsethik die ihnen übertragenen Sozialaufgaben“, sagt Frank Hofmann, Referent für Wirtschafts- und Steuerrecht der Diakonie Deutschland. „Die Dynamik unserer Zeit erfordert jedoch eine ständige Anpassung an die aktuellen Rahmenbedingungen.“ Soziale Innovationen seien daher ein Kerngeschäft für diakonische Unternehmen. „Die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens ist entscheidend für dessen Wettbewerbsfähigkeit. Es bedarf den Mut zu neuen Lösungen, um auch in Zukunft den Bedarf der Bedürftigen erfüllen zu können.“

Eine Entdeckertour durch die Landschaft Sozialer Unternehmen

Nach der Einführung durch Frau Dr. Natascha Sasserath-Alberti, Abteilungsleiterin Zentrum Recht und Wirtschaft und Justiziariat der Diakonie Deutschland, referierte Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der Bruderhaus Diakonie, zu den Gemeinsamkeiten von Startups und Diakonie. Bauer ordnete soziale Innovationen in den Kontext der unternehmerischen Entwicklung und die Geschichte der Diakonie als eine Geschichte von Innovationen ein. Anschließend stellte Dr. Stina Preuß das IntraLab, das Innovationslabor der Mission Leben in Darmstadt vor. Frau Dr. Preuß erläutert Aufbau und Arbeitsweise des IntraLabs und gab Einblicke in die Anwendung wissenschaftlicher Methoden wie Design Thinking und Business Canvas.

Die Vorstellung des Social Impact Labs als offenes Innovationslab für Gründer, das bundesweit inzwischen an acht Standorten agiert, vermittelte der Geschäftsführer des Berliner Social Impact Labs, Thorsten Jahnke. Das Social Impact Lab bietet, wie auch das InTRA Lab, potentiellen und etablierten Sozialunternehmern die Infrastruktur, das begleitende Coaching durch professionelle Mentoren sowie Hilfe bei der Implementierung der Geschäftsidee in den Markt. Exemplarisch benannte er bestehende Kooperationen zwischen Trägern der freien Wohlfahrtspflege und gewerblichen Unternehmen.

Im anschließenden Pitch vermittelten die Startups Ichó - Digitale Gesundheitsförderung für Menschen mit Demenz, VeDiSo – Entwicklung und Implementierung einer Web-Plattform für soziale Dienstleistungen und Betreuungsangebote und Integreat – Multi-Plattform-Lösungen, anschaulich den derzeitigen Stand der Entwicklungen ihrer Geschäftsideen. Anschließend wurden die Geschäftsideen mit den Teilnehmer/innen in Workshops konstruktiv diskutiert.

Am zweiten Tag wurden Startups vor Ort besucht. Daniel Kerber von more than shelters berichtete von seinem komplexen Betrachtungs- und Lösungsansatz als Sozialunternehmer in der Migrations-und Flüchtlingsbewegung aus den Projekten in Deutschland, Jordanien und anderen Ländern. Das Startup ist u. a. im viertgrößten Flüchtlingslager der Welt in Za‘atari in Jordanien engagiert. Interessant ist der Kontext der Entwicklung von Dienstleistungen und Produkten zur Lösung von humanitären Aufgaben zum Beispiel durch innovative Design-und Raumkonzepte.

Der Sozialhelden e.V. und Raúl Krauthausen sind Aktivisten der aktiven Inklusion von behinderten Menschen. Anschaulich und bewegend schilderte Raúl Krauthausen, vor welchen Schwierigkeiten und Problemen Menschen mit Behinderungen in der Bewältigung des Alltags stehen. Als bekannteste Innovation der Sozialhelden wurde Wheelmap.org vorgestellt. Die Wheelmap hilft durch eine kartographische Erfassung öffentlicher Orte wie Schwimmbäder, Bibliotheken, Cafés und Restaurants etc. das Leben für Menschen mit Behinderungen planbarer zu gestalten. Sie zeigt anschaulich, dass Soziale Innovationen eine Mischung aus menschlichen Werten, ökonomischen Notwendigkeiten und technologischer Umsetzung darstellen.

Claus Gollmann von Kind in Diagnostik, Düsseldorf, berichtete über das Problem der alltäglichen Gewalt gegen Kinder in unserer Gesellschaft. Statistisch sterben in Deutschland drei Kinder pro Woche an den Folgen von Gewalt. Viele Kinder, die Opfer von körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt wurden, sind traumatisiert und bedürfen individueller diagnostischer Konzepte. Das von Kind in Diagnostik entwickelte Modell vereint Psychodiagnostik, Traumadiagnostik, Anamnese/Elternarbeit, pädagogische Betrachtungen im Gruppenalltag und den therapeutischen Ansatz. Es hilft, die Lebensqualität der betroffenen Kinder zu verbessern und führt zu einer Kostenreduzierung für die Sozialversicherungsträger. Um mehr Kindern helfen zu können, möchte Claus Gollmann dieses Konzept in weiteren Landkreisen etablieren. Hierzu werden Kooperationspartner in der Wohlfahrt gesucht.

In der anschließenden Podiumsdiskussion mit Claus Gollmann, Thomas Jahnke, Laura Brämswig (Ashoka) und Dr. Marianne Dehne (Diakonie Deutschland) diskutierte das Podium gemeinsam mit den Teilnehmer/innen über Verbesserungen in der Kommunikation und im Netzwerkaufbau sozialer Innovationen, der finanziellen Förderung sozialer Innovationen auch in Bezug auf die Öffnung von Förderprogrammen für Innovationen der gewerblichen Wirtschaft und über die Verbesserung der gemeinnützigkeitsrechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Unternehmenskooperationen sowie die Regelungen zu unternehmerischen Risiken.

Als Fazit der Veranstaltung kann eine sinnbildliche Abwandlung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter dienen, sagt Frank Hofmann von der Diakonie Deutschland. „Der Samariter erkennt die Bedürfnisse des Verletzten, hilft und beauftragt den Wirt mit der Versorgung.“ Die Tätigkeit der Diakonie umfasse beide Facetten: Innovationen und zugleich die Umsetzung der Aufgaben aus dem Sozialgesetzbuch. Hoffmann fasst zusammen: „Im Hinblick auf Soziale Unternehmen heißt das: Mehr Samariter wagen!“