Langzeitarbeitslose schaffen neue Werte in der Upcycling-Werkstatt "Wertraum"

11. Januar 2019
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Aus gebrauchten Materialien und Reststoffen neue Produkte entwickeln: Designerin, Anleitende oder Maßnahmen-Teilnehmende – alle lernen im Berliner Sozialbetrieb Wertraum von und miteinander. Wir stellen die Idee und zwei der insgesamt 40 Mitarbeitenden vor.

Eine Frau mit Kopftuch sitzt vor einer Nähmaschine.
© Diakonie/Ulrike Pape

Fühlt sich wohl im Wertraum: Yasemin Altay schätzt besonders den freundlichen Umgang aller Mitarbeitenden.

Yasemin Altay: "Wir achten aufeinander"

Aus alt mach‘ neu: Im Grunde ist dieser Gedanke der Wiederverwertung nichts neues, aber Yasemin Altay hat ihn für sich neu entdeckt. Seitdem die 52-Jährige in der Upcycling-Werkstatt Wertraum arbeitet, sieht sie so genannten Müll mit anderen Augen: „Was ich früher weggeworfen habe, lege ich jetzt noch mal zur Seite“.

Sorgfältig streicht Altay mit dem Bügeleisen über die neu entstandene Einkaufstasche. Die war mal ein altes Herrenoberhemd. Und aus alter Bettwäsche haben Altay und ihre Kolleginnen einen Wandorganizer gezaubert. Das erste Probestück durfte sie mit nach Hause nehmen und hängt nun an ihrer Wand zu Hause.

Achtsames Miteinander

Einige Maßnahmen vom Jobcenter hat Altay bereits hinter sich. 2016 kam sie in die Werkstatt im Berliner Wedding und fühlte sich von Anfang an im Team angenommen. „Auch mit der Anleiterin und der Designerin verstehe ich mich sehr gut“, freut sich Altay. Das Jobcenter hatte zunächst allerdings andere Pläne mit ihr: Nach acht Monaten sollte sie in eine andere Maßnahme kommen. „Zum Glück konnte ich aber doch hierbleiben!“ Im Wertraum bleiben möchte sie am liebsten so lange wie möglich.

„Ich lerne hier fürs Leben“, zieht Altay Bilanz. „Wir sind wie Schwestern und Brüder und bauen uns gegenseitig auf. Wir achten alle aufeinander“. So gibt es in der Näh-Werkstatt zurzeit nur zwei Männer, aber keine Frage: „Auch die Männer können sehr gut nähen und sind Teil unseres Teams“. Davon ganz abgesehen: Sie habe schon immer gerne genäht, aber nun fühle sie sich wie ein echter Näh-Profi.  

Eine Frau hält lachend ein großes Stück Papier in die Höhe.
© Diakonie/Ulrike Pape

Die gelernte Elektronikerin Veronika Glaser hat Freude am Schöpfen von Papier.

Veronika Glaser: Nach der Maßnahme ehrenamtlich tätig

Etwas ausprobieren und schauen, wie es sich in der Praxis bewährt, eventuell scheitern und alles wieder auf null, aber um diesen Erfahrungsschatz reicher, von vorn anfangen und neu lernen: Diesen pragmatischen Ansatz des Arbeitens und Sich Findens im Wertraum konnte Veronika Glaser von Anfang an miterleben.

Als sie 2015 in die Berliner Upcycling-Werkstatt kam, standen zig Computer auf der Werkbank. Die Aufgabe von Glaser und den anderen Teilnehmenden war, alte Computer auseinanderzunehmen. Aus ihrem Innenleben bastelten sie Untersetzer, Visitenkartenständer oder strickten mit deren Kabeln. Glaser hat die Arbeit damals mit den alten Computern gut gefallen, auch wenn sich Computer als Material wegen des hohen Arbeitsaufwands nicht bewährt haben.

Angenehmes Arbeitsklima

Nun arbeitet Glaser in der Papierwerkstatt: „Mir macht alles hier Spaß, zum Beispiel das Schöpfen von Papier“, sagt die gelernte Elektronikerin und lacht, „Ich bin hier unter Menschen und mag die abwechslungsreiche Arbeitsatmosphäre“. Für die 63-Jährige ist die Maßnahme des Jobcenters inzwischen ausgelaufen, aber weil es ihr so gut gefällt, arbeitet sie weiterhin dreimal fünf Stunden die Woche im Wertraum, nun als Ehrenamtliche.

Was ist der Wertraum?

Der Wertraum ist ein Berliner Sozialbetrieb und eine Upcycling-Werkstatt von Die Wille, die als gemeinnützige GmbH benachteiligte Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt beschäftigt. Im Wertraum werden aus gebrauchten Materialien und Reststoffen neue Produkte entwickelt und gefertigt. Aus alten Textilien werden Taschen und Aufbewahrungsbehälter, aus Altpapier wird neues Papier geschöpft, woraus wiederum Weihnachtskarten, Notizbücher oder Lesezeichen entstehen.

Es sind Spenden oder Rohstoffe, die sonst im Müll landen und die hier wiederbelebt werden. Zum Beispiel erhielt die Wille jede Menge Männeroberhemden, die als Spende für Flüchtlinge gedacht waren, die aber entweder zu groß waren oder in den Mengen nicht gebraucht wurden. Wohin damit? Der Wertraum funktionierte die Hemden um: zu Umhängetaschen, Schlüsselanhängern oder Kissenbezügen.

Ping-pong: Die Designerin ist mittendrin

Ziel ist, diese pfiffigen und stilvollen Produkte serienreif zu bekommen und auf dem Markt zu verkaufen. Anders als in der arbeitsteiligen Wirtschaft denkt sich hier die Designerin ihre Ideen nicht außerhalb der Herstellung aus, sondern mittendrin in der Werkstatt. „Ich entwickle die Produkte so, dass die Menschen, die sie herstellen, weder über- noch unterfordert sind“, erläutert Melinda Barth ihre prozesshafte Vorgehensweise als Designerin, „Ich bin also direkt dabei und schaue, wer was machen kann, damit jeder in den Herstellungsprozess miteinbezogen ist und mitgenommen wird.“

So ist die Produktion wie ein Ping-Pong-Spiel: Alle sind Lernende im laufenden Betrieb und bereichern sich gegenseitig. Das Denken sei dabei nur ein Schritt: „Nur, wenn man es selbst probiert hat, weiß man, ob es wirklich funktioniert“, sagt die gelernte Tischlerin und Produkt-Designerin, die zuvor selbstständig war.

Coachings für alle

In dem Berliner Sozialbetrieb arbeiten derzeit 40 Mitarbeitende, die dank der marktnahen und betriebswirtschaftlichen Strukturen des Wertraums in ihren Erwerbschancen gefördert und beim Übergang in den ersten Arbeitsmarkt unterstützt werden sollen. Gleichzeitig lernen sie beim Upcyclen den bewussten Umgang mit Material und neue Lösungen für einen nachhaltigeren Lebensstil kennen. Sie werden in ihrer individuellen Situation begleitet, beraten und betreut – dazu gehören auch Kompetenzfeststellungen und Coachings.

Auch Wertraum selber hat ein Coaching erfahren, im so genannten LAB des Projektes „START - interkulturelle Öffnung durch soziale Innovation“. Als Inkubator und Lernplattform für alle Mitarbeitenden der Paul Gerhardt Diakonie werden hier Workshops, Coachings und Fortbildungen angeboten und Methoden gelehrt als Grundlage für innovatives Denken und neues Arbeiten. Denkprozesse anstoßen, aus Geistesblitzen gelebte Realität werden lassen: „Viele Menschen haben gute Ideen, aber wissen nicht, wie sie sie umsetzen sollen“, sagt Julia Stertz vom Projekt.

Eine offene Haltung eröffnet neue Wege

Stichwort ist die soziale Innovation: Grundgedanke hierbei ist, Innovation nicht technisch, sondern vom Menschen her zu denken. Wie etwa die grundsätzliche Frage, vor der die Mitarbeitenden im Wertraum zu Beginn standen: Wie können alle in der Werkstatt in den Arbeitsprozess integriert werden, so dass alle verstehen, was der Sinn ihrer Arbeit ist?

„Soziale Innovation unterstützt den Weg zu einer inklusiven Gesellschaft“, sagt Barth. Auf dem Weg dorthin seien gerade die vermeintlich kleinen Dinge wichtig. Das können einfach nur Türschilder sein, die alle verstehen und somit Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen, weil alle in den Entstehungsprozess miteinbezogen waren. Fazit: START schafft die Haltung und den theoretischen Unterbau, Wertraum ist die praktische Umsetzung, das analoge Produkt sozialer Innovation.

Redaktion: Diakonie/Ulrike Pape