Kinder von Suchtkranken in den Blick nehmen
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Eine Drogen- oder Alkoholsucht betrifft nicht nur die suchtkranken Menschen, sondern die ganze Familie. Warum das so ist und welche Hilfen die Familien brauchen, erläutert Katharina Ratzke von der Diakonie Deutschland.
Wie wirkt sich die Drogen- oder Alkoholsucht eines Elternteils auf die ganze Familie aus? Was bedeutet es für die Kinder?
Katharina Ratzke: Die Auswirkungen einer Suchterkrankung auf die Familie hängen von sehr vielen Faktoren ab: Sind ein oder beide Elternteile betroffen? Wie stark ist die Sucht ausgeprägt? Wie alt sind die Kinder bei Beginn der Erkrankung? Wie ist die Beziehung des Kindes zum betroffenen Elternteil? Und: Gibt es außerhalb der Kernfamilie noch wichtige Bezugspersonen, die verlässlich für das Kind da sind? Außerdem spielt eine Rolle, wie isoliert die Familie ist und ob die Erkrankung überhaupt zum Thema gemacht wird.
Je nachdem kann Sucht in der Familie auch dazu führen, dass die Kinder vernachlässigt und ihre Grundbedürfnisse nicht mehr gestillt werden: Es gibt kein regelmäßiges Essen, niemand schaut, dass die Kinder morgens aufstehen und zur Schule gehen. Im schlimmsten Fall kann es zu körperlicher Gewalt kommen. Die Kinder sorgen sich häufig um das erkrankte Elternteil: Was passiert zum Beispiel, während sie in der Schule sind? Dann können sie sich oft schlechter konzentrieren. Viel früher als gleichaltrige Kinder übernehmen sie Verantwortung - besonders dann, wenn sie noch jüngere Geschwister haben. Sie fühlen sich sehr verpflichtet, weil sie die Not ihrer Eltern spüren und sie nicht im Stich lassen wollen. Teilweise haben sie Schuldgefühle, zum Beispiel: "Meine Mutter, mein Vater trinkt jetzt, weil ich böse war." Es kann aber auch passieren, dass sich die Kinder für ihre Eltern schämen, Wut und Ärger entwickeln weil sie sich vernachlässigt fühlen und als nicht gewollt erleben. Die Eltern fühlen sich oft sehr isoliert, trauen sich wenig zu. Sie haben Konflikte in der Partnerschaft und sind häufig depressiv. Mögliche finanzielle Sorgen und Existenzängste belasten Familien zusätzlich.
Gibt es Unterschiede je nachdem, wovon die Eltern abhängig sind?
Ratzke: Sind die Eltern von illegalen Drogen abhängig, spitzt sich die familiäre Situation oft noch mehr zu. Die Familie leben häufiger in extrem desolaten wirtschaftlichen Zuständen. Oft sind auch beide Eltern abhängig - eine entsprechende Partnerwahl gibt es offensichtlich eher unter Drogenabhängigen. Hinzu können typische Konsequenzen der Drogensubkultur kommen, beispielsweise Beschaffungskriminalität oder Prostitution. Oder Vater oder Mutter sind inhaftiert. Diese Familien sind häufig sehr stark isoliert und auch stigmatisiert. Eine Alkoholerkrankung oder Medikamentenabhängigkeit dagegen kann man relativ lange vor Dritten verheimlichen und man kann auch noch relativ lange im Alltag funktionieren.
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Kinder suchtkranker Eltern ein höheres Risiko haben, später selbst abhängig oder psychisch krank zu werden. Woran liegt das?
Ratzke: Es gibt keinen Automatismus, dass Kinder suchtkranker Eltern selbst suchtkrank werden. Es gilt eher die Drittelfaustregel: Ein Drittel entwickelt gravierende Störungen, ein Drittel entwickelt leichte bis mittelschwere Probleme, die oft nur vorübergehender Natur sind, und ein Drittel bleibt psychisch gesund. Abhängig ist dies zum einen von biologisch-genetischen Dispositionen. So reagieren Menschen beispielsweise unterschiedlich auf Alkohol. Dazu gehört: Wie schnell bekomme ich einen Kater? Wieviel vertrage ich? Wenn ein Mensch relativ viel Alkohol verträgt, ist er auch eher gefährdet, schneller mehr zu trinken weil er keine körperliche Grenze spürt. Dazu kommen Umweltfaktoren - für die Kinder suchtkranker Eltern also das Familienleben mit den erwähnten Schwierigkeiten. Die Kinder lernen natürlich auch am Modell, an ihren Eltern: Sie lernen, dass Schwierigkeiten dadurch in Angriff genommen werden, dass man zu Drogen, Medikamenten oder Alkohol greift, und positive Erwartungen mit dem Konsum von Drogen oder Alkohol verknüpft sind. Aber es geht auch über die Familie hinaus: Die Kinder wachsen in einer Gesellschaft auf, in der Millionen von Menschen regelmäßig zu viel Alkohol trinken oder Medikamente nehmen, um den Alltag zu bewältigen. Das auch Ausdruck unserer Leistungsgesellschaft, in der alle funktionieren müssen und es oft darum geht, sich immer noch mehr und weiter zu "optimieren". Und wenn das nicht klappt, greifen wir zu Alkohol, Drogen oder Medikamenten. Das wird meiner Meinung nach viel zu wenig gesellschaftlich thematisiert.
Warum gibt es bislang keine kontinuierlichen Hilfen für Kinder suchtkranker Eltern, sondern nur Modellprojekte?
Ratzke: Kinder suchtkranker und auch psychisch kranker Eltern sind lange nicht in den Fokus der Fachöffentlichkeit gerückt, weil die Hilfesysteme immer nur die erkrankten Menschen, in dem Fall also die Eltern, im Blick haben. Ob diese Menschen auch Eltern sind, diese Frage wird oft nicht gestellt. Kinder kommen meist erst dann in den Fokus, wenn sie selbst auffällig werden. Dann ist es eigentlich zu spät. Ein anderer Aspekt: Viele suchtkranke Eltern nehmen von sich aus keine Hilfe in Anspruch, weil sie sich die Suchterkrankung nicht eingestehen oder als nicht so schwerwiegend ansehen. Gleichzeitig haben sie Sorge, sich ans Jugendhilfesystem zu wenden, weil sie Angst haben, dass ihnen die Kinder weggenommen werden.
Eine weitere Schwierigkeit: Das Hilfesystem ist sehr differenziert - es gibt spezielle Angebote für Eltern und spezielle Angebote für Kinder, die jeweils unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern zugeordnet sind. Die Mitarbeitenden gucken aus ihrer individuellen Perspektive entweder auf die Eltern oder die Kinder. Viel zu wenig gibt es einen ganzheitlichen Blick auf die gesamte Familie. Und selbst wenn dieser Blick gelungen ist, ist es schwierig, die verschiedenen Hilfen aufeinander abzustimmen.
Inzwischen haben Politik und zum Teil die Krankenkassen die Probleme jedoch erkannt und reagiert. Im letzten Sommer hat der Bundestag einstimmig beschlossen, eine interdisziplinäre und interministerielle Arbeitsgruppe einzuberufen, die Vorschläge für die Weiterentwicklung der Hilfen für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern erarbeiten soll. Und auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD finden die Kinder von suchtkranken Eltern und ihr Wohl Erwähnung.
Im jüngst veröffentlichten Leitfaden des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen wurden resilienzfördernde Angebote für Kinder aus suchtbelasteten Familien ausdrücklich als Handlungsfeld aufgenommen.
Dennoch gilt nach wie vor, dass in Deutschland zu wenig präventive Hilfen zur Verfügung stehen.
Die Diakonie fordert seit langem, die gesamte Familie zu unterstützen, wenn ein Elternteil suchtkrank ist. Wie sollten diese Hilfen genau aussehen?
Ratzke: Es ist wichtig, dass in den Regionen Netzwerke aller beteiligten Akteure aufgebaut werden, und dass diese Netzwerkarbeit verlässlich und langfristig finanziert wird. Sonst bleibt es der Initiative Einzelner überlassen und es fließt sehr viel Engagement in die Vernetzung, ohne dass etwas daraus folgt. Wenn es diese Netzwerke gibt, können die verschiedenen Akteure - wie die Suchthilfe, die Kinder- und Jugendhilfe sowie das Gesundheitssystem - verbindliche Kooperationsvereinbarungen treffen, die beispielsweise gemeinsame Fortbildungen und fallbezogene Zusammenarbeit regeln. Wichtig ist, dann in der jeweiligen Region zu prüfen, ob und welche weiteren Angebote nötig sind. Zum Beispiel Gruppenangebote für Kinder- und Jugendliche, um sich mit Gleichaltrigen auszutauschen, Angebote für die Eltern oder die gesamte Familie.
In Deutschland leben nach Schätzungen über 3 Millionen Kinder, deren Eltern suchtkrank sind. Trotzdem wird die Situation dieser Kinder im noch zu wenig beachtet. Warum ist das so?
Ratzke: Zum einen scheint sich in den letzten Jahren hier langsam ein Bewusstseinswandel anzubahnen, was die Kinder in suchtbelasteten Familien angeht. Zum anderen müssen wir feststellen, dass die Suchthilfe insgesamt nicht die politische Aufmerksamkeit bekommt, die ihr angesichts der gesundheitlichen Schäden und des psychischen Leidens der Betroffenen und der Angehörigen sowie angesichts der gesundheitsökonomischen und volkswirtschaftlichen Bedeutung von Suchterkrankungen eigentlich zukommen müsste.
Es gibt zum Beispiel nur wenig Aussagen zur Suchthilfe im Koalitionsvertrag, die darüber hinaus eine konsistente übergreifende Drogen- und Suchtpolitik nicht erkennen lassen. Eine Rolle spielt sicherlich, dass teilweise Suchterkrankungen lange versteckt werden können. Andererseits: Die Zahlen der suchtkranken Menschen sind bekannt. Ich denke, Politik ist immer auch Spiegelbild der Gesellschaft. Und in unserer Gesellschaft gibt es relativ wenig kritische Debatten zum Umgang mit Alkohol und Medikamenten. Warum sollte dann die Politik eine Debatte beginnen? Außerdem gibt es nach wie vor viele Vorurteile und Stigmatisierungen gegenüber Suchtkranken: Sie seien zu wenig diszipliniert und müssten sich nur zusammen reißen. Sucht wird gesellschaftlich nicht als Krankheit anerkannt. Kinder können zudem, gerade wenn sie sehr klein sind, Hilfe nicht selber anfordern. Und ihre suchtkranken Eltern suchen wie erwähnt oft nicht aktiv Hilfe. Das alles führt mit dazu, dass die Bedürfnisse suchtbelasteter Familien lange nicht auf der politischen Agenda standen.
Interview: Diakonie/Sarah Spitzer