Hauptsache irgendein Job

26. Mai 2015
  • Journal
  • Menschenwürdiges Existenzminimum
  • Armut und Arbeit

Die Sozialwissenschaftlerin Natalie Grimm sprach im Interview über Erfolgsmessung bei Menschen im ALG II-Bezug: Das System ist auf Kurzfristigkeit angelegt, sagt sie.

Natalie Grimm
© Hamburger Institut für Sozialforschungen

Natalie Grimm forscht zu sozialer Ungleichheit und Arbeitsmarktpolitik.

Wie wird Erfolg bei der Vermittlung von Erwerbslosen gemessen?

Natalie Grimm: Erfolg wird daran gemessen, wie schnell  Erwerbslose wieder Arbeit haben. Im Gesetz (SGB II) heißt es, dass die Leistungen der Grundsicherungen darauf auszurichten sind, dass durch eine Erwerbsarbeit die Hilfebedürftigkeit vermieden oder beseitiget werden kann. Die genaue Tätigkeit spielt dabei keine Rolle. Die Hauptsache ist es irgendeine Art von Arbeit zu vermitteln damit die Dauer der sogenannten Hilfebedürftigkeit verkürzt und der Umfang der sozialstaatlichen Grundsicherungsleistungen verringert wird. Die Zahlen sollen stimmen – dazu soll die Vermittlungsquote möglichst hoch sein und Sozialleistungen eingespart werden.

Wenn es im Jobcenter hauptsächlich darum geht irgendeine Arbeit zu vermitteln, wie nachhaltig ist das System?

Grimm: Das System produziert eine gewisse  Kurzfristigkeit, die dazu führt, dass Erwerbslose häufig und schnell zwischen unterschiedlichen Arbeitsmarktpositionen hin- und her wechseln. Es gibt viele Erwerbslose, die gerne eine qualitativ hochwertige Weiterbildung machen würden, um ihren eigenen beruflichen Weg langfristig zu sichern. Den meisten werden allerdings kurzfristige Beschäftigungs- oder Trainingsmaßnahmen und Leiharbeit angeboten. Manche Erwerbslose erhoffen sich darüber ein Sprungbrett in eine reguläre Beschäftigung, denn sie wollen ja arbeiten. Doch sie verlassen darüber nur kurzfristig den Leistungsbezug.

Denn Leiharbeit stellt häufig keine dauerhafte Beschäftigung dar und staatlich geförderte Beschäftigungsmaßnahmen sind meist auf sechs Monate festgelegt. Wenn diese Zeit vorbei ist, stehen diese Menschen wieder ohne Erwerbsarbeit da. Oft empfinden sie ihre Situation dann als noch schlimmer: Vor der Teilnahme an einer weiteren Maßnahme müssen sie mindestens neun Monate aussetzen. Die Chancen auf eine reguläre Beschäftigung sinken und  Gefühle des Scheiterns verstärken sich. Es ist eine Abwärtsspirale.

Müssen die Erwerbslosen alle Arbeitsangebote vom Jobcenter annehmen?

Grimm: Ja, ansonsten können sie sanktioniert werden. Die Jobcenter-Mitarbeitenden können über die Kürzungen zwar individuell entscheiden, aber die Ablehnung einer Beschäftigungsmaßnahme oder eines Jobangebots kann zu einer Absenkung der Regelleistung um  30 Prozent führen. Die  Zumutbarkeitsregeln sind dabei sehr streng. Man hat zum Beispiel keinen Berufsschutz mehr. Selbst ein ausgebildeter KFZ-Mechatroniker kann nicht sagen, dass er nur in einer Autowerkstatt arbeiten möchte. Wenn gerade ein Job bei einer Zeitarbeitsfirma im Lager frei ist, muss er diesen nehmen.

Das heißt die Zukunftsperspektiven werden gemindert?

Grimm: Wir haben in den letzten Jahren viele Erwerbslose und prekär Beschäftigte befragt und festgestellt, dass sehr viele wenig Hoffnung für die Zukunft haben. Vielleicht mal ein Beispielfall:  Dabei ging es um die Frage, ob ein Mädchen aus einem Haushalt, in dem beide Eltern schon länger im ALG II- Bezug sind, Abitur macht. Der Mitarbeiter im Jobcenter riet ihr davon ab, obwohl das Mädchen sehr gut in der Schule war. Sie sollte lieber die Realschule besuchen und dann schnell eine Lehre machen, um den Leistungsbezug schneller verlassen zu können. Ihre langfristige berufliche Zukunft spielte dabei keine Rolle.

Wie empfinden Erwerbslose dieses System?

Grimm: Ihre eigenen Interessen und Wünsche werden sehr häufig nicht mit einbezogen. Dadurch haben sie das Gefühl, dass ihnen die Gestaltungshoheit über ihr Leben verloren geht.

Sie haben auch Mitarbeitende in Jobcentern befragt. Wie empfinden sie Ihre Arbeit?

Grimm: Viele sind sehr überarbeitet und sprechen von schlechten Arbeitsbedingungen. Die Mitarbeitenden sind für viel mehr Fälle zuständig als offiziell angegeben wird. Deswegen können sie Erwerbslose oft nicht ausgiebig beraten. Sie müssen dafür sorgen, dass die Erwerbslosen so schnell wie möglich den Leistungsbezug verlassen. Daran werden Jobcenter-Mitarbeitende gemessen. Dazu kommt, dass auch noch ein Kennzahlenvergleich mit anderen Jobcentern durchgeführt wird. Viele haben in den Interviews gesagt, dass sie sich so viel mit anderen Dingen beschäftigen müssen, dass sie gar nicht zur eigentlichen Arbeitsvermittlung kommen. Viele "Kunden" bräuchten erst Mal ein Qualifizierung oder Stabilisierung der sozialen Situation – eben eine richtige Beratung. Trotzdem werden die Jobcenter-Mitarbeitenden vor allem an ihrer Vermittlungsquote  gemessen.

Was würden die Mitarbeiten in den Jobcentern sich wünschen?

Grimm: Sie bräuchten viel mehr Zeit für die Erwerbslosen, selbst mehr Qualifikationen und regelmäßige Teamtreffen und Supervisionen, in denen Fälle gemeinsam besprochen werden. Außerdem müsste klar sein, dass sie Maßnahmen nicht zwangsläufig besetzt werden müssen. Häufig werden Maßnahmen wie  Bewerbungstrainings zentral eingekauft, die dann auch mit Erwerbslosen besetzt werden müssen. Es würde schon vielen ArbeitsvermittlerInnen helfen, wenn sie nicht so unter Zeitdruck  handeln müssten.. Und damit wäre auch den Erwerbslosen geholfen.

Natalie Grimm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialwissenschaften. Unter anderem forscht sie zur Arbeitsmarktpolitik und sozialer Ungleichheit. Grimm ist es wichtig nicht von Arbeitslosen sondern von Erwerbslosen zu sprechen, also Menschen ohne sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, "Denn Arbeit haben eigentlich alle, sei es Erziehungsarbeit, Pflegearbeit, Haushaltsarbeit oder eine Erwerbsarbeit, die nicht zur Existenzsicherung reicht und somit mit staatlichen Leistungen aufgestockt werden muss."

Interview: Diakonie/Anieke Becker

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2015 ist die Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV) zehn Jahre in Kraft. Zehn Thesen setzt die Diakonie diesem denkwürdigen Jubiläum entgegen. Das Ziel: Menschenwürde und soziale Teilhabe verwirklichen. Zu jeder These gibt es einen Beitrag. Das Interview mit Natalie Grimm gehört zu der vierten These.