Exklusion verhindern

12. März 2015
  • Journal
  • Armut und Arbeit
  • Menschenwürdiges Existenzminimum

Claudia Mahler, Expertin für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte im Deutschen Institut für Menschenrechte, sprachen im Interview über soziale Teilhabe.

Dr. Claudia Mahler
© Diakonie/Hanne Bohmhammel

Dr. Claudia Mahler, Juristin und Spezialistin für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte.

Warum ist die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe ein Menschenrecht?

Claudia Mahler: Soziale Teilhabe bedeutet beispielsweise, Mitglied im Sportverein zu sein, aber auch einen Kaffee um die Ecke zu trinken oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen zu können. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, damit sich arme Personen als Teil der Gesellschaft fühlen und auch sein können, sonst findet eine Exklusion und oft eine Ghettoisierung statt, aus der nur sehr schwer auszubrechen ist.

Hartz IV legt ein "Mindestmaß" an sozialer Teilhabe fest. Was bedeutet das? Einmal pro Woche ins Kino?

Mahler: Die Sätze sind relativ niedrig, hochkulturelle Angebote wie Oper sind nicht eingerechnet, eher ein Kinoticket. Ich könnte mir auch vorstellen, dass bei einem Hartz IV-Satz von insgesamt 399 Euro die wenigsten die 45 Euro, die für soziale Teilhabe vorgesehen sind, wirklich dafür verwenden, um kulturell teilzuhaben, sondern deutlich mehr versuchen, damit die physische Existenz zu befriedigen. Das ist sehr schade, aber jetzt zum Beispiel sind die Strompreise wieder in die Höhe geschossen und auch das muss von dem Regelsatz bezahlt werden.

Können verschiedene Bedürfnisse nach sozialer Teilhabe, zum Beispiel der Opernbesuch, individuell eingeklagt werden?

Mahler: Innerhalb des Regelsatzes gibt es ein Wahlrecht, so dass man auch sagen könnte, wenn du in die Oper gehen willst, musst du woanders weniger ausgeben. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass gerade bei der sozialen Teilhabe der Gesetzgeber einen größeren Spielraum hat, als wenn es um Existenzsicherung geht, daher kann ein Ansparen durchaus vorgesehen werden.

Wenn sich die Regelsätze an dem Durchschnittsverbrauch der deutschen Gesellschaft orientieren, warum sind dann die Hartz IV-Sätzefür Asylbewerberleistungen unterschiedlich?

Mahler: Auch hier ist es so, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen Spielraum gegeben hat. Wenn der Staat es transparent und nachvollziehbar begründen kann, kann er den Satz unterschiedlich regeln. Wir sind der Meinung, dass die Bundesregierung das allerdings nicht gut begründet und keinen Beweis erbracht hat, dass Bezieher von Asylbewerberleistungen tatsächlich einen geringeren Bedarf haben als ALG II–Bezieher, nämlich insgesamt nur 370 Euro.

Wie wurde es denn begründet?

Mahler: Für einen kurzfristigen Aufenthalt seien gewisse Posten nicht notwendig, so dass diese herausgerechnet wurden. Unserer Meinung nach wurde dabei aber nicht berücksichtigt, dass Asylbewerber im Gegenzug Bedarfe haben, die höher sind als bei ALG II-Beziehern. Beispielsweise können Telefonate in die Heimat sehr teuer sein, oder auch die Gebühren für Telefonate innerhalb Deutschlands, die geführt werden müssen, weil sich Familienmitglieder aufgrund der Residenzpflicht nicht besuchen können. Der öffentliche Nahverkehr muss häufiger genutzt werden, weil viele Flüchtlingsheime abseits liegen und die Behörden oder auch die Freizeitmöglichkeiten für Kinder weit entfernt sind.

Das Menschenrecht auf soziale Teilhabe wird in Deutschland an Bedingungen geknüpft, zum Beispiel Bewerbungen schreiben. Entspricht dieses Prinzip von Leistung und Gegenleistung den Menschenrechten? 

Mahler: Menschenrechte  stehen jedem Menschen zu und sind nicht von Bedingungen abhängig. Das führt zwar nicht zu grenzenlosen Ansprüchen, der Staat hat aber eine Sicherungsfunktion. Der Staat muss jeden Menschen in seinem Land ausreichend unterstützen, wenn derjenige sich nicht selbstständig durch Arbeit erhalten kann. Dies kann auch mit eigenen Anstrengungen wie etwa Bewerbungen oder dem Bemühen um eine Arbeitsstelle verbunden werden.

Auch mit der Jobannahme...

Mahler: Ja, das ist ein anderer Punkt. Hier muss man genau unterscheiden. Wenn Jobs vorgeschlagen werden, die eben nicht ausreichend sind, um sich selbst erhalten zu können, widerspricht dies dem Recht auf Arbeit.

Obwohl Hartz IV soziale Teilhabe ermöglichen soll, stehen arme Personen in Bezug auf Bildung und sonstige gesellschaftliche Teilhabe vor großen Hürden. Woran liegt das?

Mahler: Viel an Zuschreibungen, ob von außen oder selbstgemacht: Menschen, die in Armut leben, ziehen sich oft zurück, weil sie zum Beispiel nicht die angesagte Kleidung haben, nicht das coole Handy oder nicht den Cappuccino im Café trinken oder an etwas teureren Freizeitaktivitäten teilnehmen können. Für Kinder ist es ganz schwer, weil soziale Zuschreibungen im Klassenverbund schnell vonstattengehen, insbesondere wenn die Schulen nicht sensibel mit den Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaktes umgehen. Wenn sich die Familie zurückgezogen hat, zieht sich auch die nächste Generation zurück. Es ist sehr schwer, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Armut reproduziert sich.

Was müsste sich in Deutschland ändern, damit der Sprung aus der Armut besser umgesetzt werden kann?

Mahler: Es müsste ein Paradigmenwechsel stattfinden: Man müsste davon wegkommen, dass ALG II-Bezug als reine Hilfeleistung betrachtet wird. Und zwar als eine Hilfeleistung, die etwas mit Almosen zu tun hat, denn das ist es nicht. Sobald jemand verinnerlicht hat, dass er ein Rechtsträger und kein Hilfeempfänger ist, hat er auch ein anderes Auftreten: Er kann seine Rechte einfordern und einklagen, und ist nicht darauf angewiesen, dass jemand ihm etwas Gutes tut. Wenn das von allen Seiten anerkannt wäre, und zwar auch und gerade von den Behörden, würde das von Haus aus ein menschenwürdiger Umgang sein. Aber die Berichte, die man von Betroffenen in Jobcentern hört, beschreiben oft einen menschenunwürdigen Umgang.

Liegt das daran, dass die Angestellten auch nur Hilfeempfänger sehen?

Mahler: Nein, das liegt nicht nur an den Angestellten, sondern vor allem an den Strukturen. Auch die Mitarbeiter der Jobcenter müssen Vorgaben erfüllen. Der Druck ist für alle sehr hoch. Ein menschenwürdiger Umgang von beiden Seiten kann nicht gewährleistet werden, solange sich die Vorzeichen im System nicht geändert haben. Jeder Mensch hat diese Rechte, und die hängen nicht vom guten Willen des Job-Center Mitarbeiters ab.

Interview: Diakonie/Hanne Bohmhammel

10 Jahre Hartz IV

2015 ist die Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV) zehn Jahre in Kraft. Zehn Thesen setzt die Diakonie diesem denkwürdigen Jubiläum entgegen. Das Ziel: Menschenwürde und soziale Teilhabe verwirklichen. Zu jeder These gibt es einen Beitrag. Das Interview mit Claudia Mahler gehört zu der zweiten These.