„Bis ich zurückgekommen bin, war meine Familie ok. Wegen mir wurden sie bedroht, jetzt sind sie verschollen.“ – Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen
- Journal
- Flucht und Migration
Abschiebungen nach Afghanistan bringen die Menschen in Gefahr: Rückkehrern drohen Gefahr für Leib und Leben, Verelendung und Verfolgung. Unter anderem werden ihnen wegen der Flucht nach Europa Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam vorgeworfen. Die Familien von Europa-Rückkehrern sind dadurch ebenfalls gefährdet. Auch deshalb fehlt abgeschobenen Afghanen vielfach das überlebenswichtige familiäre Netz. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Sozialwissenschaftlerin und Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann im Auftrag von Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und der Diakonie Hessen.

Der Global Peace Index stufte Afghanistan 2020 wie auch schon 2019 als das gefährlichste Land weltweit ein. Die Studie der Sozialwissenschaftlerin und Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann zeigt: Abgeschobenen Afghanen drohen lebensgefährliche Verletzungen, Verelendung und Verfolgung.
Die Studie „Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans“ basiert auf mehrjähriger Forschung. Die Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann hat darin Erfahrungen von 113 der 908 Afghanen dokumentiert, die zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschobenen wurden. Nahezu alle erlebten Gewalt und viele, weil sie nach Europa geflohen sind, dort gelebt haben oder abgeschoben wurden. Das bringt auch ihre Familien in Gefahr.
Wie Khalil O., der erleben musste, dass seine Familie von den Taliban bedroht wurde, als er zurückkam. So wurde er gleich nach der Ankunft in Kabul von seiner Familie gewarnt, nicht nach Hause zu kommen, weil die Taliban schon dagewesen seien und sie bedroht hätten, damit sie ihn ausliefern. Er solle stattdessen fliehen. Kurz darauf brach der Kontakt zu seiner Familie dauerhaft ab. Seitdem lebt er mit der Angst und Schuldgefühlen, dass seine Abschiebung seine Familie womöglich das Leben gekostet hat: „Bis ich zurückgekommen bin, war meine Familie ok. Wegen mir wurden sie bedroht, jetzt sind sie verschollen. Ich kann nicht schlafen. Ich denke immer darüber nach, ob sie noch leben, und dass ich schuld bin.“
Weitere Fallbeispiele zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen*
Eine der vielen Bedrohungen, mit denen Abgeschobene konfrontiert sind, ist die Verfolgung durch die Taliban. Diese werfen ihnen aufgrund der Flucht nach Europa vor, zum „Feind“ übergelaufen zu sein, bezeichnen sie deshalb als „Spione“ und „Ungläubige“. Ein Gespräch mit Rozikhan zeigt, in welch verzweifelte Situationen das Betroffene bringen kann, dass dies nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien bedroht.
Rozikhan A.: „Ich habe schon wieder einen Anruf von den Taliban bekommen, die Nummer war unterdrückt.“
F.S.: „Aber du hast doch eine neue Nummer?“
Rozikhan A.: „Ja, auf der neuen Nummer. Wenn die die haben, wissen sie auch, wo ich wohne. Die Nummer haben nur ganz wenige.“
F.S.: „Was haben sie denn gesagt?“
Rozikhan A.: „Sie haben gesagt, ich muss nach [Herkunftsort] kommen, damit ich bestraft werde, weil ich für die Bundeswehr gearbeitet habe.“
F.S.: „Aber du hast doch gar nicht für die Bundeswehr gearbeitet?“
Rozikhan A.: „Nein, das denken die, weil ich in Deutschland war. Wenn ich nicht hingehe, kommen sie zu mir, haben sie gesagt. Meine Frau sagt, ich soll fliehen, weil sie mich erschießen werden. Aber ich habe Angst, dass sie dann meiner Frau wehtun. Vielleicht sollte ich hingehen. Vielleicht glauben sie mir, dass ich kein Übersetzer war. Und vielleicht werde ich dann nur ausgepeitscht und dann ist meine Familie sicher. Ich bin doch schon zweimal umgezogen in den letzten Wochen. Was soll ich denn tun?“
Auch Khalil O. musste erleben, dass seine Familie von den Taliban bedroht wurde, weil er zurückkam. So wurde er gleich nach der Ankunft in Kabul von seiner Familie gewarnt, nicht nach Hause zu kommen, weil die Taliban schon dagewesen seien und sie bedroht hätten, damit sie ihn ausliefern. Er solle stattdessen fliehen. Kurz darauf brach der Kontakt zu seiner Familie dauerhaft ab. Seitdem lebt er mit der Angst und Schuldgefühlen, dass seine Abschiebung seine Familie womöglich das Leben gekostet hat: „Bis ich zurückgekommen bin, war meine Familie ok. Wegen mir wurden sie bedroht, jetzt sind sie verschollen. Ich kann nicht schlafen. Ich denke immer darüber nach, ob sie noch leben, und dass ich schuld bin.“
Verfolgung droht Abgeschobenen auch, weil es in der Bevölkerung die Annahme gibt, dass Geflüchtete während ihrer Zeit im europäischen Exil kulturelle oder religiöse Normen verletzt haben und damit als Ungläubige betrachtet werden. Oft beruhen diese Vorwürfe auf Fotos und Gerüchten. Oft sind es nur Vorurteile, die zu Verfolgung und akuter Gefahr auch für Angehörige und Unterstützerinnen und Unterstützer führen. Nematullah B.‘s Erfahrung ist ein Bespiel dafür. Er berichtete: „Unser Vermieter hat gesagt, ich wäre jetzt Christ und hat uns vertrieben. Ich bin kein Christ. Ich bete jeden Tag, ich faste. Meine Eltern wissen das. Aber weil der das gesagt hat, musste meine ganze Familie fliehen. Wenn das geglaubt wird, ist es für alle gefährlich.“
Abgeschobene sind mit dem weitverbreiteten Glauben konfrontiert, dass nur schwere Straftäter oder Terroristen abgeschoben würden. Während tatsächliche Straftäter in Afghanistan von einer erneuten Sanktionierung für ihre Straftaten bedroht sind, sind auch alle anderen wegen dieser Annahme von immensem Misstrauen betroffen. Von Angehörigen wird ihnen zusätzlich vorgeworfen, dass sie durch diese vermeintlich selbst verschuldete Abschiebung auch das Überleben der Familie gefährdet haben. Statt Sympathie für die Verzweiflung über die Abschiebung zu bekommen, erleben sie daher oft Ausschluss bis hin zu Gewalt durch Angehörige. So schilderte Ghulam R.: „Meine Familie glaubt mir nicht, dass ich unschuldig bin. Sie glauben, ich habe in Europa etwas Schlimmes gemacht. Sie haben jetzt kein Geld mehr, um Essen zu kaufen. Sie glauben, ich bin schuld. Als ich sie besucht habe, haben sie mich geschlagen und gesagt, ich darf nicht wieder kommen.“
Aufgrund des immensen Elends im Land und der Schulden, die Familien oft zur Finanzierung der Flucht der Betroffenen aufnehmen mussten, sind die meisten Familien gar nicht in der Lage, Abgeschobene zu unterstützen. Weil die Erwartung an erwachsene Männer aber auch ist, dass sie ihre Familien unterstützen und nicht anders herum, sind viele Familien auch gar nicht bereit, den Alltag Abgeschobener zu finanzieren. Viele erleben auch Stigmatisierung und sozialen Ausschluss als „verwestlichte“, erfolglose Rückkehrer und vermeintliche Kriminelle. Dazu kommt das Problem, dass Abgeschobene ihre Vermieter und Angehörigen aufgrund von Sippenhaft in die Gefahr von Verfolgung bringen und sich deshalb versteckt halten müssen. Am ehesten haben daher diejenigen eine Chance auf eine zumindest temporäre Unterkunft, die durch Unterstützerinnen und Unterstützer die finanziellen Mittel haben, um für diese Verstecke zu bezahlen. Navid B. schilderte dies Friederike Stahlmann:
Navid B.: „Ich konnte bei meinem Onkel unterkommen. Er hat ein großes Haus in Kabul und mein Vater hat ihn darum gebeten. Aber ich durfte das Haus nicht verlassen und er wollte 8000Afn Miete von mir.“
F.S.: „Obwohl ihm das Haus gehört?“
Navid B.: „Ja, obwohl ihm das Haus gehört.“
Viele der Abgeschobenen versuchen, durch ein Visumsverfahren nach Deutschland zurückzukommen. Doch auch unter denen, die eine gute Chance hätten, ein Visum zu bekommen und damit sicher außer Landes zu kommen, entscheiden sich manche für die lebensgefährliche Flucht. Das hat nicht nur mit Misstrauen zu tun, ob es wirklich vorhersehbar ist, dass sie ein Visum bekommen. So fragte Ahmed: „Warum sollten die mir jetzt wegen meines Kindes ein Visum geben, wenn sie mich trotz des Kindes abgeschoben haben?“ Ein weiterer Abgeschobener hatte ebenfalls Zweifel an den Aussichten eines Visumsverfahrens: „Sie wussten, dass ich ein Kind erwarte. Warum soll es trotz Vaterschaftsanerkennung und Sorgerechtserklärung möglich sein, zwar erst abgeschoben zu werden, aber dann wieder einzureisen?“ Ein dritter fragte: „Warum sollte man mir die Arbeitserlaubnis für die Lehrstelle erst verweigern und mich abschieben, weil ich keine Lehre mache, und mich dann wieder einreisen lassen, um die Lehre anzufangen. Das ergibt doch keinen Sinn, oder?“ Viele fliehen, weil sie das Geld nicht haben, um die Abschiebekosten von mehreren Tausend Euro zu begleichen, oder auch nur die lange Zeit bis zur Ausstellung des Visums in Afghanistan zu finanzieren. Andere fliehen, weil die Gefahren, denen sie in Afghanistan bis zur Erteilung des Visums ausgesetzt sind, akuter sind als die lebensgefährliche Flucht. So Ali L. im Gespräch mit Friederike Stahlmann:
Ali L.: „Nein, ich warte nicht auf ein Visum. Ich werde wieder fliehen, das geht schneller.“
F.S.: „Aber eine Flucht ist doch so gefährlich. Wäre es nicht besser dein Kind wartet und du kommst lebend an, als dass dir unterwegs was passiert?“
Ali L.: „Hier auf das Visum zu warten, ist auch gefährlich. Wer sagt mir denn, dass ich das hier überlebe? So weiß mein Sohn zumindest, dass ich versucht habe, zu ihm zu kommen.“
Immer wieder werden Afghanen abgeschoben, die Afghanistan gar nicht kennen. Auch ohne die zusätzliche Gefährdung durch den Aufenthalt in Europa hatten diejenigen, die lange im Iran oder Pakistan gelebt haben, erfahrungsgemäß schon vor der Eskalation der Not und Gewalt in den letzten Jahren keine Chance auf Integration in Afghanistan, wenn sie keinen Zugriff auf Landbesitz und die Unterstützung wohlwollender Verwandter hatten. Ohne Erfahrung in Afghanistan haben sie auch keine Chance drohende Gefahren angemessen einzuschätzen und so gut wie möglich zu vermeiden. Aufgrund dieser Erfahrungen gehören die, die lange nicht mehr oder noch nie in Afghanistan gelebt haben, zu denjenigen, die meist sofort nach der Abschiebung versuchen, erneut zu fliehen. Ohne Chance im Iran einen legalen Status zu bekommen und angesichts der Hundertausenden, die jährlich aus dem Iran nach Afghanistan abgeschoben werden, bleibt aber auch ihnen oft nur die Hoffnung, irgendwie wieder nach Europa zu gelangen. So Nuri S. im Gespräch mit Friederike Stahlmann:
F.S.: „Haben Sie darüber nachgedacht, ob es nicht vielleicht besser wäre, in Afghanistan zu bleiben als gleich wieder in den Iran zu gehen?“
Nuri S.: „Nein“
F.S.: „Aber Sie sind ja schon mal aus dem Iran geflohen. Und Sie wussten ja, dass Sie dort illegal sind.“
Nuri S: „Ja, aber ich bin aus dem Iran geflohen, weil ich dort von der Abschiebung nach Afghanistan bedroht war.“
F.S.: „Aber haben Sie Hoffnung, dass Sie das nächste Mal in Europa Schutz bekommen?“
Nuri S.: „Man muss Hoffnung haben. An dem Tag, an dem man keine Hoffnung mehr hat, ist man tot.“
* Alle Namen wurden zum Schutz der Betroffenen geändert.
Abgeschobene haben kaum Hoffnung auf minimale Existenzsicherung
Die Analyse der Erfahrungen Abgeschobener zeigt zudem, dass das spezifische Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, und der weitgehende soziale Ausschluss auch die Hoffnungen der Abgeschobenen auf minimale Existenzsicherung zunichte machen. Angesichts der extremen Armut, von der schon vor der rapiden Eskalation der humanitären Not durch die Corona-Pandemie 93 Prozent der Bevölkerung betroffen waren, haben Abgeschobene schon allein aufgrund ihres sozialen Ausschlusses keine realistische Chance, ihre Existenz zu sichern. 75 Prozent der Abgeschobenen haben hauptsächlich von privater Unterstützung aus dem Ausland gelebt, nur einer hatte existenzsichernde Arbeit und knapp 15 Prozent waren teilweise oder dauerhaft obdachlos und ohne Schutz vor Witterung. Die meisten Abgeschobenen haben das Land schon wieder verlassen.
Mehr zu den Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen finden Sie in der Studie „Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans“.
Die Studie und weitere Informationen
- Studie "Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen" PDF (3,19 MB)
- Zusammenfassung der Studie und Hintergründe PDF (632 kB)
- Interview mit der Afghanistan-Expertin und Studienautorin Friederike Stahlmann
- Pressemitteilung von Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und der Diakonie Hessen mit der Forderung nach einem sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan