Durch Vernetzung und politische Teilhabe raus aus der Armut
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Fünf Menschen, fünf Geschichten, was es bedeutet arm zu sein und keine Chance zu bekommen. Um gemeinsam dagegen aktiv zu werden, gehen sie zum 12. Treffen der Menschen mit Armutserfahrung. Erfahren Sie mehr über ihre Erwartungen und Anliegen.

"Ich möchte etwas tun!", sagt Angelika Zwering, "Aber ich bekomme keine Chance!"
In Deutschland gibt es keine Armen? Die Aussage macht Angelika Zwering wütend: "Wie respektlos!", ärgert sich die Rentnerin aus Monheim am Rhein, "Politiker können das einfach so sagen, denn die haben ihre Schäfchen im Trocknen. Ich aber leider nicht." Im Sozialdienst katholischer Frauen ist sie in dem Projekt "Schritt für Schritt" aktiv und kümmert sich um Langzeitarbeitlose. So gibt es ein Sozial-Kaufhaus und ein Café, das täglich eine frisch gekochte Mahlzeit für kleines Geld anbietet. Dort kocht Angelika Zwering einmal die Woche ehrenamtlich für rund 25 bedürftige Menschen, darunter Wohnungslose, Rentner und Hartz IV-Empfänger.
Auch für die Nationale Armutskonferenz (nak) engagiert sie sich ehrenamtlich. Vor kurzem war sie in Wien auf der österreichischen Armutskonferenz und hat sich dort in den Workshops mit den Teilnehmenden ausgetauscht.
"Das kann ich alles machen, aber eine Arbeitsstelle, die bezahlt wird, traut man mir nicht zu", bedauert die 66-Jährige, die seit rund zehn Jahren arbeitssuchend ist und seither entweder von Arbeitslosengeld II, Grundsicherung, Witwenrente und/oder Erwerbsminderungsrente lebt.
Frustrierend sei es, ständig Post zu bekommen, auf deren Rückseite stets eine Drohung stehe: "Wenn Du das nicht machst, dann bekommst Du das und das nicht mehr oder es wird gekürzt." So der Tenor einer jeden Jobcenter-Nachricht.
Das Renteneintrittsalter werde zwar immer höher gesetzt, aber wer über 50 Jahre alt sei, finde kaum noch Arbeit. "Wenn ich mit meinem Gehstock zum Bewerbungsgespräch gehe, werde ich gleich abgewimmelt". Dabei möchte die fröhliche Rheinländerin gerne arbeiten: "Ich bin kein Mensch, der nur zu Hause sitzt und auf den Fernseher starrt. Ich möchte etwas tun! Aber ich bekomme keine Chance!" Dies und weitere Themen will sie beim 12. Treffen der Menschen mit Armutserfahrung in Berlin ansprechen: "Wir haben in Deutschland leider jede Menge Arme und es werden immer mehr. Dies sollen die Politiker endlich mal zur Kenntnis nehmen und auch etwas tun", erhofft sie sich als ein Ergebnis der Diskussionsrunden.
Jürgen Volkmer ärgert sich über "geistige Armut"

"Problem sind die Menschen, die viel haben und noch mehr haben wollen", sagt Jürgen Volkmer
Jürgen Volkmer (55) verlor nach der Scheidung von seiner Frau die vormals gemeinsame Wohnung und war faktisch wohnungslos. Durch sein "Dranbleiben" gelang es ihm, wieder aus dem Obdachlosenheim herauszukommen und eine eigene Wohnung zu finden, aber keine dauerhafte Anstellung. "Dabei habe ich sieben Ausbildungen!", sagt er nicht ohne Stolz. Zuletzt hat er Deutsch als Fremdsprache unterrichtet.
Zum Treffen der Menschen mit Armutserfahrung geht er, weil er mitdiskutieren möchte. "Das Problem sind nicht die Menschen, die keine Wohnung haben oder keine Arbeit oder kein Geld", sagt er, "Problem sind die Menschen, die viel haben und noch mehr haben wollen." Es könnte alles so einfach sein, es sei gar nicht so kompliziert: Geben statt Nehmen. Warum falle vielen das Geben so schwer? "Ich bin vielleicht materiell arm, aber diese unendliche Gier ist für mich die eigentliche Armut, die geistige Armut".
Das möchte er gerne bei der Nationalen Armutskonferenz einbringen: Warum könnten Politiker sich nicht zum Beispiel Nelson Mendela als Vorbild nehmen und ein Drittel ihres Gehalts abgeben? "Mir ist bei der Nationalen Armutskonferenz wichtig, dass es nicht nur beim Reden bleibt, sondern dass darauf auch Taten folgen."
Jürgen Volkmer engagiert sich im sozial-integrativen Chor "Different Voices of Berlin". Die Gruppe leitet die Soul- und Jazzsängerin Jocelyn B. Smith ehrenamtlich in der Gitschiner 15, dem Berliner Zentrum für Gesundheit und Kultur gegen Ausgrenzung und Armut. Als nächstes singt er bei einem Konzert für wohnungslose Menschen: "Ohne Musik und Bücher würde ich kaputt gehen".
Für Marita Drogatz gab es keine zweite Chance, in ihren alten Job zurückzukehren

Marita Drogatz bei der Berliner Tafel "Laib und Seele" in der Passionskirche
Bis 36 habe sie "ganz normal funktioniert", erzählt Marita Drogatz (54), "Dann von einem Tag zum anderen hat sich mein Leben radikal verändert." Die ehemalige Stewardess wurde in einem zermürbenden Sorgerechtsstreit um eines ihrer Kinder straffällig, landete im Gefängnis und in zwei Berliner Krankenhäusern des Maßregelvollzugs und war damit gesellschaftlich abgeschrieben.
Jahrelang hat sie darum gekämpft, wieder in ihrem Beruf als Flugbegleiterin tätig zu sein. Die psychiatrischen Diagnosen und Gutachten aus dem Strafverfahren führten allerdings zur Berufsunfähigkeit und damit zu einem Leben mit Hartz IV und diversen Minijobs, um sich und ihre Kinder über Wasser zu halten. Zur Lebensmittelausgabe der Berliner Tafel "Laib und Seele" in der Kreuzberger Passionskirche geht sie regelmäßig, weil sie so Geld sparen kann.
"Dabei hätte es meiner seelischen Verfassung gutgetan, nach Gefängnis- und Psychiatrieaufenthalt wieder in meinem alten Job arbeiten zu dürfen", sagt Marita Drogatz heute rückblickend. Von ihrer finanziellen und sozialen Situation ganz abgesehen. Seit knapp zwei Jahrzehnten ist sie als Alleinerziehende von Armut betroffen. "Gerade für Menschen, die straffällig geworden sind, bedeutet eine feste Arbeitsstelle Sicherheit und hilft, zurück ins Leben und die Gesellschaft zu finden".
Das Treffen der Menschen mit Armutserfahrung sieht sie als Chance, als Betroffene gehört zu werden: "Ich gehe zu der Konferenz, damit sich politisch etwas ändert. Ich bin für das bedingungslose Grundeinkommen, weil es den vielen alleinerziehenden Müttern in Teilzeit und ihren Kindern zugutekommt. Wir leisten sehr viel und erhalten dafür nur sehr wenig."
Viel hat Marita Drogatz schon erlebt im Behörden- und Bürokratiedschungel. Von den Bildungsgutscheinen des Jobcenters hält sie zum Beispiel gar nichts: Ihre Tochter hatte die Chance, eine musikorientierte Klasse des Gymnasiums besuchen zu können. Die Kosten für das erforderliche Musikinstrument wurden aber nicht übernommen, bedauert sie: "Bildung in Deutschland richtet sich nach dem Einkommen der Eltern. Gleiche Chancen und Rechte haben arme Kinder bisher leider nicht".
"Ich möchte mich nicht ständig rechtfertigen müssen"

Kay Raasch freut sich auf lebhafte Diskussionen beim Treffen der Menschen mit Armutserfahrung
Was ist Ihr Hintergrund, warum Sie am 12. Treffen der Menschen mit Armutserfahrung teilnehmen?
Kay Raasch: Bis 2010 war ich als IT-Administrator tätig, aber hatte zwei Bandscheibenvorfälle und chronische Kreuzschmerzen und lebe seit 2013 von Arbeitslosengeld II. Bei meiner Gewerkschaft ver.di habe ich die Chance erhalten, mich im Landeserwerbslosenausschuss zu engagieren und mache dort die Redaktion für unsere Standpunkte und Forderungen.
Was ist Ihnen bei diesem Treffen der Nationalen Armutskonferenz (nak) besonders wichtig?
Raasch: Überall, wo Themen wie Arbeitslosigkeit diskutiert werden, sind die, um die es geht, unterrepräsentiert. Als Betroffener möchte ich und politisch etwas erreichen, zum Beispiel in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen oder Abschaffung dieser so genannten Ein-Euro-Jobs.
Was bedeute es für Sie, arm zu sein?
Raasch: Ich bin gesellschaftlich vom Leben ausgegrenzt und muss noch dazu mich ständig rechtfertigen, warum ich nicht dazugehöre. Das kostet viel Kraft.
"Wir Betroffene wollen auf Augenhöhe mitreden"

Als stellvertretender Sprecher der nak ist Robert Trettin selbst von Armut betroffen
Warum engagieren Sie sich in der Nationalen Armutskonferenz?
Robert Trettin: Mir liegt vor allem die Arbeit mit den Betroffenen am Herzen. Das unterscheidet auch die Nationale Armutskonferenz (nak) von anderen Initiativen: Wir machen Lobbyarbeit nicht nur für Menschen mit Armutserfahrung, sondern auch mit ihnen. Sie können sich in der nak direkt einbringen – zum Beispiel in unseren Arbeitsgruppen. Hier positionieren wir uns zu Themen wie Wohnen, Armut und Gesundheit oder Grundsicherung und bringen unsere Einschätzungen und Forderungen in die politische Diskussion ein.
Was erwartet Menschen mit Armutserfahrung beim Treffen der nak?
Trettin: Wir möchten den Teilnehmenden die Möglichkeit geben, direkt in Kontakt mit den politischen Entscheidungsträgern zu kommen. Noch nie waren so viele Politikerinnen und Politiker in den Workshops dabei wie dieses Mal. Hier können die Betroffenen auf Augenhöhe mit ihnen sprechen und ihnen ihre Anliegen klarmachen. Was viele Betroffene an der Teilnahme hindert, ist die traurige Tatsache, dass sie so mit der Sicherung ihrer Existenz beschäftigt sind, dass sie keinen Kopf haben, sich inhaltlich mit politischen Themen auseinanderzusetzen. Genau das wollen wir ändern.
Was brauchen die Betroffenen, damit sie mitdiskutieren können?
Trettin: Dafür müssen sie gut vorbereitet sein. Auch viel Eigeninitiative ist gefragt. Ich bin selbst betroffen und engagiere mich, weil ich überzeugt bin, dass wir von der Basis aus etwas verändern können. Dafür habe ich mich immer wieder weitergebildet und zum Beispiel kürzlich einige Wahlkampfveranstaltungen besucht, um mich mit den Kandidatinnen und Kandidaten auseinanderzusetzen, was das für Menschen sind. Die Wahlprogramme kann ich nachlesen, aber ich wollte die Politikerinnen und Politiker persönlich erleben und mit ihnen sprechen – auf Augenhöhe. Für mich sind das alles Erfahrungen und auch Übungen, aus denen ich lernen kann. So rate ich auch den Betroffenen: Probiert Euch aus! Werdet selbst aktiv! Wenn der Wille von der Politik nicht da ist, an sozialen Missständen etwas zu verändern, müssen wir Betroffene von der Basis aus selbst Veränderungen schaffen.
Text: Diakonie/Ulrike Pape
12. Treffen der Menschen mit Armutserfahrung
Die Nationale Armutskonferenz (nak) ist ein Zusammenschluss aus Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und deutschlandweit tätigen Fachverbänden und Betroffeneninitiativen. Seit 2006 organisiert die nak einmal jährlich ein Treffen der Menschen mit Armutserfahrung. Hier haben Betroffene und Interessierte die Möglichkeit, sich untereinander, aber auch mit Experten aus Politik, Organisationen, Verbänden und Initiativen auszutauschen – dieses Jahr unter der Federführung der Diakonie.
Das Motto am 4. und 5. Oktober 2017: "Flagge zeigen - Soziale Rechte, Beteiligung, Menschenrecht". Veranstaltungsort des 12. Treffen der Menschen mit Armutserfahrung ist die Heilig-Kreuz-Kirche, Zossener Str. 65, 10961 Berlin-Kreuzberg.