„Du bist kein Versager, Corona ist einfach Pech.“ – Mit der Diakonie raus aus der Schuldenfalle
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Tätowieren ist nicht nur ihr Beruf, sondern ihre Leidenschaft. Ihr eigenes Studio beschreibt sie als ihr „Lebenselixier“. Als Kleinunternehmerin war es Estella Martin (33) seit Beginn ihrer Selbstständigkeit vor vier Jahren gewohnt, hart zu arbeiten, manchmal auch zu kämpfen. Dann kam Corona. Das Studio musste schließen, Einnahmen blieben aus, vieles ging schief. Nun geht Estella Martin in die Privatinsolvenz. Zum 1. August musste sie ihr Studio aufgeben. Unterstützung suchte sie sich bei der Schuldnerberatung der Diakonie. Ein Erfahrungsbericht.

Als Kleinunternehmerin war es Estella Martin gewohnt, hart zu arbeiten. Nun musste sie ihr Studio aufgeben.
„Ich liebe es zu tätowieren. 2013 habe ich mich selbstständig gemacht. Mein eigenes Tätowier-Studio hier in Steinfurt, meine eigenen vier Wände und die Möglichkeit, meine Leidenschaft und Kunst darin auszuleben. Das musste ich schweren Herzens zum August aufgeben, wegen der Corona-Krise. Mittlerweile kann ich meine Fassung bewahren und nicht mehr darüber weinen, aber die Zeit war wirklich hart. Ich musste sozusagen mein Herzblut von den Wänden abnehmen, dort habe ich viele Skizzenbilder gehabt und Leinwände. Mein Studio war mein Lebenselixier. Und jetzt sitze ich rum und denke, das kann doch alles gar nicht sein, das gibt’s jetzt nicht mehr.
Ich habe so viel gekämpft – jetzt gehe ich in die Insolvenz
Ich habe so viel gekämpft, das Abi nachgemacht, noch diesen Job und jenen, um an mein Ziel zu kommen. Ich habe seit Monaten keinen vollständigen Krankenversicherungsschutz. Von der Krankenkasse wurde ich in die höchste Beitragsstufe eingestuft, die aber nicht meinem Einkommen entsprach. Die Einschaltung eines Rechtsanwaltes war leider auch nicht erfolgreich. Ich kann nicht einmal den Mindestbeitrag zahlen. Daher bin ich weiterhin nicht voll krankenversichert, das war schon vorher ein großes Problem. Und dann kam Corona. Jetzt gehe ich in die Insolvenz – eine für mich nie dagewesene Option.
In den ersten Wochen des Lockdowns habe ich mir noch etwas Geld geholt bei Leuten, die bei mir noch offene Rechnungen hatten – was aber wirklich nicht viel war, weil ja alle in dieser Corona-Krise steckten. Im April habe ich online einen Antrag auf Corona-Soforthilfe gestellt und ein paar Tage später eine Bestätigungsmail bekommen. Doch das Geld blieb aus. Als ich anrief, um nachzufragen, bin ich in der Wartschleife gelandet. ‚Alle Berater sind im Gespräch. Bitte haben Sie Geduld, wir haben so viele Anträge.‘ Ich glaube, ich habe in meinem Leben noch nie so viel Geduld haben müssen. Dann lief der dritte Monat an – ohne Geld. Ich habe einer anderen Kollegin, die ist auch selbstständig ist, gesagt, Mensch, zeig mir doch mal deine Bestätigungsemail. Und sie sagte: ‚Das sieht aber nicht gut aus.‘ So sind wir darauf gekommen, dass das ein Betrugsfall ist. Das Geld wurde gezahlt – nur nicht auf mein Konto.

Wenn das Geld wegfällt, erzählt Estella Martin, hast du innerhalb von drei bis vier Monaten 10.000 Euro Schulden, das geht so schnell.
In drei bis vier Monaten kommen 10.000 Euro zusammen – das geht so schnell
Ich habe so oft gehört, du bist doch selbstständig, da hast du doch bestimmt Rücklagen. Da denke ich mir: Habt ihr das denn als Privatleute? Und ich muss doch alles alleine zahlen. Man stellt sich das immer so einfach vor. Durch zwei Haushalte, privat und gewerblich, hat man ja auch ganz andere Fixkosten. Wenn das Geld wegfällt, hast du innerhalb von drei bis vier Monaten 10.000 Euro Schulden, das geht so schnell. Meine privaten und gewerblichen Räume sind in einem Gebäude. Irgendwann konnte ich die Miete nicht mehr zahlen, bin praktisch rausgeflogen. Dann bin ich bei meinem Lebensgefährten untergekommen. Das ging natürlich hopplahopp. Und es ist doch etwas Anderes, ob man sich entscheidet, zusammenzuziehen oder ob man praktisch dazu gezwungen ist.
Dann kam der Punkt, da wurde mir richtig übel
Am Anfang der Corona-Krise habe ich gedacht, versuch dran zu bleiben und dir vor allem deine Leidenschaft nicht nehmen zu lassen. Denn sonst liegt sie am Boden und du weißt nicht mehr, wie du sie aufheben sollst. Ein bisschen renovieren, zeichne wieder, geh‘ an die Sachen ran. Aber Ende Juni war so ein Punkt, da habe ich gedacht: April, Mai, Juni, jetzt sind drei Monate um – und dann war bei mir Stress im Kopf. Da wurde mir richtig übel. Das Geld, das permanent nicht da ist, diese tägliche Angst. Dieses Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Du machst nicht einmal mehr die Briefe auf, sondern nur noch Schublade auf, Brief rein, Schublade zu. Man sieht immer Zahlen auf dem Brief und kann dagegen nix machen. Da war ich kurz davor, in eine Depression zu rutschen.
Und dann habe ich mir gesagt: Estella, merkst du nicht, es geht nicht mehr. Ich musste mich wirklich hinsetzen, mit mir selber darüber reden und mir sagen: Das ist kein Aufgeben, das ist richtig so. Du kannst jetzt zwar noch unter Wasser schwimmen, aber du kannst nicht mehr atmen. Und dann ist es unsinnig, weiter zu schwimmen.
Die Hilfe der Schuldnerberatung ist der Grund dafür, dass ich heute hier sitzen und wieder lachen kann
Eine Bekannte hat mir gesagt, bei der Diakonie haben die Ahnung, da gibt’s einen Schuldner- und Insolvenzberater. Und dann habe ich mich an die Schuldnerberatung gewandt und mich in die Hände von Herrn Schubert begeben. Herr Schubert ist ein Super-Berater, auch menschlich gesehen top. Er hat mir so viel Hoffnung gegeben und so viel Zuversicht. Sie sind hier richtig, sagte er, passen Sie mal auf, SGB II-Antrag, hier ist der Zettel, füllen Sie das mal aus. Rufen Sie da und da an, machen Sie dies und das. Ich kann nur sagen: Herr Schubert ist für mich wie ein Engel, eine wirklich große Hilfe und der Grund dafür, dass ich heute hier sitzen und wieder lachen kann.

Die Schuldnerberatungsstellen der Diakonie helfen Menschen, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind.
Ich bin eine stolze Frau. Aber es gibt Situationen, da ist Stolz nicht angebracht.
Mir Hilfe zu holen, war aber nicht leicht. Ich denke, der Grund, warum manche Leute sich nicht an die Schuldnerberatung wenden, ist: Man gibt sich einfach die Blöße. Ich bin eine stolze Frau. Aber es gibt Situationen, da ist Stolz nicht angebracht. Das musste ich mir selbst sagen und das ist glaube ich die Stärke, die man haben muss.
Ich muss mich jetzt erst einmal selber lokalisieren und mich fragen, wie es mir geht. Fühlst du dich entwertet? Kannst du dich wieder ins Arbeitsleben integrieren als Angestellte? Ich war ja immer mein eigener Herr. Da bin ich jetzt gerade dabei und Herr Schubert ist ein großartiger Begleiter, wir sind in ständigem Kontakt.
Corona war einfach Pech
Es ist schön, dass die Regierung uns helfen wollte und auch alles so schnell vonstattenging. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe mich sehr ausgeschlossen gefühlt. Es gab unzureichend Informationen und Hilfestellung, auch bezüglich der Anträge. Alles war überlastet, man hatte keinen Ansprechpartner und landete ständig in der Warteschleife. Überall war Frust. Das hat man gemerkt. Von den Anträgen, auch der Meldung des Betrugsfalls, habe ich bis heute nichts gehört, kein Schreiben, keine E-Mail. Da fühle ich mich schon etwas im Stich gelassen.
Trauer und den Verlust erst einmal verarbeiten
Wenn man mich fragt, wovon ich träume, habe ich immer meine Tattoos im Kopf und das Zeichnen. Ich zeichne seit ich sechs bin und bin sehr früh, mit 16 Jahren, ans Tätowieren gekommen. Ich vermisse es, zu tätowieren. Ich vermisse es, mit Leuten zu lachen. Ich liebe es, fremde Menschen kennenzulernen, deren Story und das als Bild dann auf deren Haut zu projizieren. Das gibt mir so viel. Aber gerade habe ich nicht mal Bock, einen Stift zu nehmen und etwas auf Papier zu schreiben. Ich muss mich mit der Situation erst noch auseinandersetzen.
Daher mache ich jetzt belanglosen Kram. Gehe in den Garten Unkraut zupfen, den Zaun streichen, einen Nagel in die Wand hämmern – also wirklich etwas, das mit meinem Beruf nichts zu tun hat, um diese Trauer und den Verlust erstmal anders zu verarbeiten. Das ist wie eine Beschäftigungstherapie, die mich zurück zu meinen Wurzeln bringt. Und da möchte ich eigentlich wieder hin. Wieder die Ader zu meiner Kunst finden, denn die habe ich in den letzten Monaten wirklich verloren durch den permanenten Stress.
Corona ist ein Tiefschlag. Aber du bist kein Versager.
Ich bin eine lebensfrohe Person. Mein Leben ist eine Achterbahn, sonst wäre es ja auch langweilig. Und es kommen immer wieder Tiefschläge. Corona ist jetzt so einer. Ich habe auch in der Ecke gesessen und geweint. Aber ich habe mir immer wieder gesagt: Es ist kein Eigenverschulden, durch das du in diese Situation geraten bist, sondern ein globales Problem und das haben einige. Du hast nicht aufgegeben, weil du nicht weitergekämpft hast. Du bist kein Versager. Corona ist einfach Pech. Es ist nicht vorbei, es ist jetzt einfach ein neuer Abschnitt. So sehe ich das."
Protokoll: Sarah Spitzer, aufgenommen am 25. August 2020